Der Krake Istanbul

Martin Jahrfeld DER KRAKE ISTANBUL

„Da man hier nur in Pantoffeln geht, nie das Geräusch von Kutschen und Lastkarren hört, da es keine Glocken gibt und fast kein Handwerk getrieben wird, bei dem man des Hammers sich bedient, so herrscht überall eine immerwährende, durch nichts unterbrochene Stille.“ (Francois Ren

de Chateaubriand

Wo bitte soll das gewesen sein? Dem französischen Dichter und Staatsmann, der seine Impressionen Anfang des 19.Jahrhunderts zu Papier brachte, würden die Ohren rauschen, könnte er in unseren Tagen an diesen Ort zurückkehren. Derartiges bleibt den Heutigen vorbehalten: Als wir nach zwanzigstündiger Busfahrt aus den Sitzen klettern, Kopf und Kleidung mühsam ordnend an die diesige Morgenluft treten, ist der Lärm grenzenlos. Die in der Nacht eingenommene Schlaftablette als Indikation gegen den unerbittlich sprudelnden Erzählfluß einer mitreisenden türkischen Familie wirkt noch nach. Das erwachende Istanbul nimmt darauf keine Rücksicht. Großstadtsymphonie nennt man das, doch das Wort besagt wenig, solange man nicht die grandiose Besetzung des Orchesters gesehen hat. Auf dem Vorplatz des Busbahnhofs im Stadtviertel Aksaray tremoliert ein Zeitungsverkäufer in monotonem Stakkato für die neueste Ausgabe von 'Hürriyet‘ (Freiheit). Mit den Wortkaskaden eines greisen Losverkäufers, der einige Meter weiter auf seine Zettelware aufmerksam macht, bildet er ein klangvolles Duett. Doch während das Massenblatt mit buntbebilderten Raub - und Mordgeschichten bei den Frühaufstehern reißenden Absatz findet, bleiben der Alte und seine mobile Lotterie unbehelligt. In zerlumpter Jacke und an Krücken sieht er nicht wie ein Vorbote des schnellen Glücks aus.

Istanbul, der landfressende Moloch, der Krake, dessen Arme sich

über drei Ufer und zwei Kontinente erstrecken, der Wasserkopf eines Agrarlands, der Fokus dreier Weltkulturen. Die Einwohnerzahl steigt jährlich um 300.000, nach einer knappen Million in den fünfziger Jahren leben heute sieben Millionen Menschen am Bosporus. Angesichts von Arbeitslosigkeit und anhaltender Landflucht in der Türkei werden für die neunziger Jahre zehn Millionen prognostiziert. Manche Stadtplaner orakeln gar von 15 Millionen. Unübersehbare Folgen dieser Entwicklung sind die Gecekondu, wilde Siedlungen an der Stadtperipherie, die sich Jahr für Jahr weiter ins Land schieben. Doch auch im Zentrum der Stadt, nahe Basar und Topkapipalast, sind die Symptome einer aus den Fugen geratenen Großstadt unübersehbar. Ein kollabierender Straßenverkehr, der einen kaum erträglichen Gestank produziert, überfüllte Klein- und Großbusse, enge Trottoirs, auf denen wir uns einen Weg durch die Menschenmassen bahnen, gehören zum touristischen Pflichtprogramm. Der Hotelportier, der uns wenig später in Empfang nimmt, hat tröstende Worte parat: Jetzt, im Juni, sei die Luft hervorragend, schlimm werde es erst im Winter, wenn die Leute ihre zugigen Häuser mit Kohle beheizen. Smogluft, Slums und Autostaus sind die eine Wahrheit, die Legenden, aus denen diese Stadt ihre Faszination bezieht, eine andere. * * *

Der Pudding-Shop im Viertel Sultan Ahmet ist so eine Legende: zu Verklärung geronnene Vergangenheit und entsprechend viel Patina. Das zweigeschossige Selbstbedienungsrestaurant war einst Dreh- und Angelpunkt des globetrottenden Hippie internationalismus. Die alternativen Reisepfade zwischen Orient und Okzident sind lange verweht, der Landweg nach Beirut, Kabul und Teheran so gut wie unpassierbar. Doch einige wenige haben immer noch nicht bemerkt, daß von diesem Gleis schon lange kein Orientexpreß mehr abfährt. Claude, ein vierzigjähriger Kanadier mit mächtigem Vollbart, gehört dazu. Seit drei Jahren gehört er zur Stammkundschaft und wartet auf Geld aus der Heimat. Das Geld wird wohl nie eintreffen, doch Claude erzählt unverdrossen von den glorreichen Reisen nach Nepal und Indien und von noch größeren Plänen für die Zukunft. Zwischen den Einheimischen und Pauschaltouristen, die jetzt die Tische des Pudding -Shops bevölkern, wirkt er wie ein Fossil aus prähistorischen Zeiten.

Hier lernen wir auch Gülsen kennen, keine Globetrotterin, sondern eine Frau aus Istanbul, die hier zur Schule gegangen ist und heute als Lehrerin arbeitet. Sie erzählt von ihrer Kindheit in den fünfziger Jahren. Von Badeausflügen an den Bosporus, aus dem Fische und Muscheln geholt und auf offenem Feuer gebraten wurden, von Straßenbahnfahrten zum baumumsäumten Beyazitplatz, an dem man immer Freunde traf, von gemeinsamen Streifzügen durch das Altstadtlabyrinth. Istanbuls Kinder müssen heute nach einem anderen Zeitvertreib suchen. Der Bosporus befindet sich in einem kritischen Zustand. Veraltete Kanalisation und Kläranlagen sind den Abwassermengen, die Industrie und Privathaushalte täglich produzieren, schon lange nicht mehr gewachsen. Halic, das Gewässer zwischen dem alten Stambul und den Stadtteilen Taksim und Besiktas, ist zur Kloake geworden. Auch wenn eine Erneuerung der Kanalisation vorgesehen ist: An deren Endpunkten stehen nur mechanische Kläranlagen, die eine Verbesserung der Situation kaum erwarten lassen. Auch die ehemals grünen Parkanlagen sind rar geworden: Den Beyazitplatz gibt es nicht mehr, auf dem Taksimplatz steht ein großes Sheraton-Hotel. Die Straßenbahn hat ihren Betrieb eingestellt. * * *

Auch wenn Kindheitserinnerung manches verklären mag: Man muß keine dreißig Jahre in dieser Stadt gelebt haben, um die sich derzeit vollziehenden Veränderungen zu spüren. Fener und Balat, traditionelle Viertel der Mittel- und Unterschicht nahe des Topkapimuseums, sind zwar noch weitgehend erhalten, doch ihr Schicksal scheint besiegelt. Dort, wo Generationen billigen Wohnraum fanden, soll nach dem Willen der Stadtverwaltung eine Autobahnringstraße verlaufen - Tribut an den immer weiter ausufernden Verkehr in der Stadt. Für den von zahlreichen Architekten und Initiativen immer wieder geforderten Bau einer Untergrundbahn zur Lösung der erdrückenden Verkehrsprobleme stehen die Chancen dagegen schlecht. Bürgermeister Bedrettin Dalan, der in Istanbul nicht umsonst den Beinamen „Bulldozer“ trägt, hat das Goldene Horn zum städtebaulichen Prestigeobjekt erhoben. Die preiswerten Mietwohnungen im Stadtkern sollen Platz machen für moderne Bürohäuser, für Banken und Hotellerie. Neue Heimat für ein finanzstarkes Angestelltenpublikum, das nach den Erwartungen der Stadtverwaltung nicht mit der U-Bahn, sondern mit dem eigenen Auto zur Arbeit fährt. Den jetzigen Bewohnern bleibt das Ausweichen nach der Slumperipherie, dem Gecekondu. Wer dort wohnt, muß täglich bis zu drei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln oder an Bushaltestellen verbringen.

Istanbul, eine Stadt im beginnenden Umbruch: Wenn die städtischen Pläne Realität werden, nicht länger eine einzigartige Metropole, sondern ein gesichtsloses Hochhauspanorama, in dem die Kultur von Jahrtausenden keine Kontur mehr hat. „Was diese Stadt einmal war, wirst du dann nur noch im Museum bestaunen können“, gibt sich Gülsen überzeugt. * * *

Kapali Carsi, Istanbuls großer Basar, der auf 20.000 Quadratmetern 4.000 Geschäfte und Lädchen beherbergt, wird sicherlich kein Opfer der Bulldozer werden. Seine Geschichte, seine wirtschaftliche Bedeutung und seine Anziehungskraft für Touristen ist zu groß, als daß er aus der Stadt wegzudenken wäre. Doch die umliegenden Straßenzüge, in denen ebenfalls eine Mischung aus Händlern und Handwerkern ihre angestammte Adresse hat, sind bereits in das Visier der Sanierer geraten. Das Konzept der Auslagerung von Industrie und Gewerbe soll auch dieses gewachsene und intakte Viertel treffen. Moderne Tourismusgastronomie und neue Hotelkomplexe existieren bereits auf dem Reißbrett. Selbst das buntgemischte Heer der fliegenden Händler, das Istanbuls Straßen bevölkert und von der Wasserpfeife bis zum Roleximitat alles im Angebot hat, scheint der Verwaltung ein Dorn im Auge zu sein. Vor einigen Monaten erfuhr die Öffentlichkeit von Plänen, wonach die Straßenhändler mit uniformer Bekleidung und festgelegten Ständen ausgerüstet werden sollen.

Am frühen Abend erreicht der Großstadtverkehr einen neuen, den letzten, Höhepunkt des Tages. Aus den 18 Ausgängen des Basars strömen die Käuferscharen und verschmelzen vor den Anlegekais im alten Stambul mit dem Heer der Arbeiter und Angestellten, die aus Besiktas und Taksim über die Galatabrücke zu den Schiffen drängen. Die Schiffssirenen der betagten Fährdampfer mahnen zur baldigen Abfahrt, doch bevor in Richtung Asien abgelegt wird, gilt es für die Händler noch schnell einige Geschäfte zu machen. Auf offenen Feuerstellen verströmen geröstete Maronen und gesalzener Mais ihren Duft. Der Spontankauf zwischen Hafenmauer und Schiffs- reling versüßt den Feierabend.

Ein paar Stunden später in einer Nebenstraße wirkt die Weltstadt plötzlich wieder wie ein beliebiges anatolisches Dorf: Nachbarschaftsschwatz zwischen Wäscheleinen, auf den staubigen Straßen toben die Kinderhorden, in den neonhellen Kaffeehäusern schnauzbärtige Jünglinge beim Tavlaspiel. Bald alles reif fürs Museum? Aber welches Museum wäre groß genug, die Geschichte dieser Stadt zu erzählen?