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Essay

■ Ein Provisorium aus Stahlbeton von Erich Kuby

ESSAY Ein Provisorium aus Stahlbeton

Von Erich Kuby

Auf Staaten projeziert sind vierzig Jahre in England, in Frankreich, in Spanien, in Rußland und so weiter gar nichts. Diese Länder und Völker können um ein halbes Jahrtausend zurückgehen und befinden sich dann immer noch nicht am Anfang ihrer Geschichte. Rechnen wir Deutsche um ein Jahrhundert zurück, also von heute bis 1889, so haben wir es immer noch (gerade noch) mit einem Herrn von Bismarck zu tun, der lumpige 18 Jahre vorher das Deutsche Reich gegründet und seither wie ein Diktator geführt hatte.

Da ich so alt wie das Jahrhundert minus zehn bin, habe ich das Bismarcksche Reich mit einem Kaiser an der Spitze noch erlebt, war erst acht Jahre alt, als schon Schluß war mit diesem Kaiser und dem ganzen Reich. Mit Deutschland war noch nicht Schluß. Es wurde erst eine Republik, dann eine Diktatur. Nachdem auch diese durch einen zweiten Weltkrieg in Unehren untergegangen war, saßen in Potsdam drei fremde Staatsmänner zusammen, dachten ziemlich hilflos darüber nach, was sie denn nun aus ihrem Sieg machen wollten, und einer sagte: „Deutschland.“ Ein anderer sagte: „Deutschland, was ist das eigentlich?“ Worauf der dritte sagte: „Nehmen wir mal an...“ Sie einigten sich auf ein nicht mehr existierendes Gebilde von 1937, weil sie sich sagten: „Na schön, annehmen kan man alles.“ Das ist keine erfundene Siegerunterhaltung, sondern Zitat.

Auf diese Weise erlebte ich, nunmehr 35 Jahre alt, eine vierte deutsche Regierung, die bestand aus vier fremden Generälen und nannte sich Kontrollrat mit Sitz in der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin. Sie funktionierte nicht lange und war infolgedessen auch nicht die letzte, von der ich einen Paß bekam. Dieser war hellgrün, konnte mehrere Sprachen; das Wort „deutsch“ kam darin weder so noch so vor. Es war der beste Paß, mit dem ich jemals kleine Auslandsreisen unternommen habe, denn er war ein ehrliches Dokument. In dem Paß, mit dem ich jetzt fast auf der ganzen Welt herumfahren und -fliegen kann, ohne daß mir fremde Grenzwächter irgendwelche Schwierigkeiten machen, wohingegen die Grenzkontrolleure des Staates, der diesen Paß ausgestellt hat, ihn auf eine Computerscheibe legen (die so angebracht ist, daß ich sie nur sehen könnte, wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte), und er somit beim Verfassungsschutz registriert wird, daß ich schon wieder von München nach Venedig geflogen bin - also dieser Paß lügt so wie er gedruckt ist, indem er mich als Bürger der „Bundesrepublik Deutschland“ ausweist, ganz so, als sei dieses aus dem Hut der Sieger hervorgezauberte Gebilde tatsächlich ein Reprint von Deutschland.

Somit bin ich also dort angelangt, wohin ich gemäß dem Vorschlag dieser Zeitung kommen soll, bei dem Staat, der vierzig Jahre alt geworden ist. Das ist für diesen Staat, der sich verklausuliert Deutschland getauft hat, ein sehr hohes Alter und vermutlich noch nicht einmal seine Halbzeit. Ich darf sagen, ich sei bei der Geburt dabei gewesen, ja sogar schon bei seiner pränatalen Existenz. Es waren herrliche Sommerwochen des Jahres 1948. Von München, wo die 'Süddeutsche Zeitung‘ erschien - und erscheint! -, der ich damals angehörte, war ich auf die Insel Herrenchiemsee gefahren, auf der jener „Märchenkönig“ Ludwig II. seine Versailles-Kopie erbaut hatte. Aber nicht dort, sondern in einem dunkel getäfelten Eckzimmer im ersten Stock des alten Schlosses tagte eine Expertenrunde aus elf westdeutschen Ländern, nannte sich „Verfassungskonvent“ und dachte sich eine zukünftige Staatsorganisation aus, stark angelehnt an die Weimarer Republik. Den Herren war von dem Repräsentanten der US-Militärregierung, einem gewissen Clay, gesagt worden, was sie mit einem soliden Artikelwerk eigentlich auf den Weg bringen sollten, nämlich ein westliches, klar antikommunistisches Staatsgebilde, in das drei von vier Besatzungszonen eingebracht werden sollten.

Einigen, zum Beispiel dem ungemein eloquenten Staatsrechtler Carlo Schmid, war bei diesem Tun ziemlich mulmig zumute, denn einerseits sollte es ja ein Staat werden, andererseits aber doch auch nicht. In Schmids Worten: „Machen wir einen Weststaat, also einen echten Staat, oder ein Rumpfdeutschland, das den Anspruch erhebt, Gesamtdeutschland zu repräsentieren?“ Unnötig zu sagen, was dabei herauskam: kein Provisorium, ein echter Staat, sofern man ihn so nennen kann, obwohl er unter Kuratel steht, auch noch nach vierzig Jahren - unter Kuratel der Vorbehaltsrechte der Mächte, die ihn gemacht haben wollten. Den letzten Schliff gab dieser Verfassung dann zu Bonn Adenauer als Vorsitzender des Parlamentarischen Rates. Sie nannte sich schamhaft Grundgesetz. Dem ersten Bundeskanzler war überhaupt nicht mulmig dabei, denn er wollte gar nichts anderes als diesen Weststaat für immer und ewig. Was daraus in vierzig Jahren geworden ist, kann sich nicht nur sehen lassen, es ist unübersehbar. Von den Vorstellungen ist nicht viel übrig geblieben, mit denen die Herren auf der Insel im Chiemsee an ihr juristisches Glasperlenspiel gegangen waren, nachdem sie sich darüber klar geworden waren, daß „man damit endgültig darauf verzichtet, die Einheit Deutschlands auf dem Wege einer Einigung der vier Besatzungsmächte herbeizuführen“ (Carlo Schmid). Diesen endgültigen Verzicht wollen ein paar nationale Träumer noch immer nicht wahr haben, aber das stellt die innere Stabilität dieses Staates mit der Hauptstadt Bonn - möglichst weit weg von Berlin absolut nicht in Frage.

Im übrigen ist die ursprüngliche Liberalität des Grundgesetzes von Politikern aller Parteien, die allesamt an der deutschen Angst erkrankt sind, Stück um Stück abgebaut worden. Niemand hätte sich vor vierzig Jahren träumen lassen, daß aus dem „Provisorium“ ein zementierter Polizeistaat würde, auf dessen Territorium pro Quadratkilometer mehr Atomwaffen installiert sind als auf irgendeinem anderen Stück der Erdoberfläche. Es ist mit diesen Waffen genau so, wie es unter der Diktatur mit den Vernichtungslagern gewesen ist: wer nichts davon wissen will, weiß nichts davon. Wer so viel davon weiß, daß er sie abgeschafft haben möchte, ist kein guter Staatsbürger. Weit mehr als 90 Prozent der Bevölkerung, zwei Millionen Arbeitslose inklusive, sind davon überzeugt, die BRD sei der beste deutsche Staat, den es seit 1871 gegeben hat, womit sie insofern recht haben, als die breiten Schichten noch niemals zuvor unter so angenehmen materiellen Verhältnissen gelebt haben. Die Reichsteilung und die ideologische wie die militärische Unterwerfung des westlichen Teiles unter die US -Supermacht hat sich ausgezahlt.

Nichtsdestoweniger fehlt es den meisten Deutschen, die in den Genuß dieses Satelliten-Arrangements gekommen sind, an der richtigen Begeisterung für ihren nunmehr vierzigjährigen Staat. Die Umstände, unter denen sich die Nation gar nicht zu lassen wußte vor Stolz, eine deutsche zu sein, unterschieden sich denn auch erheblich von den gegenwärtigen. 1940, als die Franzosen durch Sonn‘ und Mond geschlagen worden waren, die Ausrottung der Polen begonnen hatte, die Vernichtung der Juden vorbereitet wurde - da schäumte der Nationalstolz über wie nicht einmal nach der Schlacht bei Sedan 1870. Richtig schade, dergleichen kann die Bonner Regierung nicht bieten; nicht einmal die „Wiedervereinigung“, aber die will ohnehin fast niemand mehr. Statt dessen: Türken raus! Und Leute rein, die vor hundert Jahren deutsch gesprochen haben. In Schnellkursen lernen sie wenigstens soviel, daß sie im Supermarkt einkaufen können. Mehr braucht's nicht zur staatsbürgerlichen Integration in die BRD.

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