Atomare Zeitbomben in den Meeren

Greenpeace-Studie über Unfälle auf See: Mindestens zehn Atomreaktoren und 50 Atomwaffen unter Wasser  ■  Von Andreas Zumach

Berlin (taz) - Auf dem Boden der Weltmeere liegen mindestens 50 Atomwaffen und zehn Atomreaktoren und verrotten. Die „Zeitbomben“ haben die Kriegsmarinen der USA und der UDSSR bei Unfällen in den Jahren 1945-88 verloren haben. Zu diesem Ergebnis kommt die erste umfassende Untersuchung von Unfällen mit Schiffen und U-Booten, die der US -Rüstungsforscher William Arkin vom „Institute für Politik -Studien“ und Greenpeace gestern in Washington vorlegte. Durch den weiter anhaltenden Mißbrauch des Meeresbodens als „privatem atomaren Müllabladeplatz“ der Kriegsmarinen der USA, UDSSR, Chinas, Großbritanniens, Frankreichs und Indiens drohe die radioaktive Verseuchung der Ozeane, sagte Arkin anläßlich der Vorstellung der Studie.

Die Kriegsmarinen dieser sechs Staaten verfügen über atomar angetriebene Schiffe und U-Boote, die zudem - mit Ausnahme der indischen - mit Atomwaffen bestückt sind. Die Untersuchung dokumentiert im Detail 1.276 Unfälle - darunter 456 Kollisionen zwischen Schiffen und U-Booten, 130 auf Grund gelaufene Marinefahrezeuge, 114 Explosionen und 276 Brände. Weitere 1.100 Fälle sind in allgemeiner Form aufgeführt. Das ist im Durchschnitt seit 1945 „ein ernster Marineunfall pro Woche“, so Greenpeace. Mehr als 200 dieser Unfälle wurden verschwiegen und waren nirgends dokumentiert. Fortsetzung auf Seite 6

FORTSETZUNG VON SEITE 1

Mindestens 2.800 Besatzungsmitglieder fanden seit Ende des 2.Weltkrieges den Tod, darunter 1.200 US-Amerikaner, 600 Sowjets und je 200 Briten und Franzosen. Seekriegsauseinandersetzungen der letzten 44 Jahre wie zum Beispiel der Falkland-Konflikt oder Gefechte im Persischen Golf und der Straße von Hormuz wurden in der Untersuchung nicht mitgezählt. 337 der im Detail beschriebenen 1.276 Unfälle geschahen in Häfen. In Hamburg und in Kiel laufen nach Greenpeace-Angaben regelmäßig atomwaffenbestückte Kriegsschiffe ein.

Bei 212 Unfällen waren von Atomreaktoren angetriebene Schiffe und U-Boote beteiligt. In „mehreren hundert Fällen“, so die Untersuchung, hatten die betroffenen Marinefahrzeuge Atomwaffen an Bord. Sowjetischer Herkunft sind 43 der auf dem Meeresgrund liegenden 50 Atomwaffen und sieben der zehn Atomreaktoren. Die tatsächliche Zahl der atomaren Pannen sei vermutlich viel höher, erklärte Rüstungsforscher Arkin. Die Geheimhaltungspolitik der Regierungen - laut Arkin auf sowjetischer und französischer Seite noch strikter als auf US-amerikanischer oder britischer - habe eine vollständige Erfassung aller tatsächlich passierten Unfälle bislang verhindert. Greenpeace-Sprecher Leipold verwies in diesem Zusammenhang auf die „verfäl

schenden, irreführenden“ Informationen der US-Navy über den erst vor einigen Wochen durch Greenpeace-Recherchen bekanntgewordenen Verlust einer Wasserstoffbombe vom Flugzeugträger „Ticonderoga“, 80 Meilen vor der japanischen Küste im Jahre 1960. Ein bislang verheimlichter Brand auf der „USS Belknap“ 1975 habe sich bis fast an die mitgeführten Atomwaffen herangefressen“. Bei jedem Unfall mit atomgetriebenen oder atomar bewaffneten Marinefahrzeugen, so Leipold, drohe die Freisetzung „ähnlicher Mengen an Radioaktivität wie bei der Katastrophe in Tschernobyl“. Die Studie offenbare, daß „Kriegsschiffe und U-Boote, die Atomwaffen tragen können, diese auch regelmäßig mit sich führen“.

Eine Fassung der Studie in russischer Sprache wurde gestern der sowjetischen Botschaft in Washington übergeben. Greenpeace betreibt darüber hinaus eine Kampagne für die völlige Atomfreiheit der Meere. Von den weltweit rund 15.600 Atomwaffen auf See befinden sich 9.100 auf 280 Kriegsschiffen und U-Booten der USA sowie 5.700 auf 600 sowjetischen Marinefahrzeugen (GB:250/31; Frankreich 290/8; China:170/4). Die UdSSR betreibt 184 Schiffe und U-Boote mit insgesamt 350 Atomreaktoren an Bord, die USA 145 mit 168 (GB: 19/19; Frankreich:9/9; China 5/5). Indien verfügt über ein von der UdSSR zur Verfügung gestelltes U-Boot mit einem Atomreaktor.