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ÜBERDREHTES ÄGYPTEN

■ Retrospektive des ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine im Arsenal

Am Abend des 24.Dezember schneit es in Jerusalem, ein weihnachtliches Wunder aus der Tüte des Requisiteurs. Vor den Toren der Stadt lagert die völlig zerriebene Armee der Kreuzfahrer, geführt von Richard Löwenherz. Da dringt über die Mauern ein doppelter Klang: die Weihnachtslieder der Christen in Jerusalem mischen sich mit den Rezitationen des Korans. Löwenherz, moralisch gebrochen durch Heuchelei und Verrat im christlichen Heer, überwindet sich endlich, Frieden mit Saladin, dem charismatischen Führer der Araber, zu schließen, der auch ihm selbst schon das Leben gerettet hat. Höhepunkt des dreistündigen Heldenepos „Saladin“.

Bei der ersten Begegnung mit ägyptischem Kino schockt diese Mischung aus Hollywood und Oberammergau zweifellos. „Saladin“ erzählt zwar aus der ungewohnten arabischen Perspektive von den Kreuzzügen, besticht vor allem aber mit viel Farbe und Breitwand. Der „Orient“ erweist sich als eine rückimportierte Kulisse aus zweiter Hand. Doch erst die filmhistorische Einordnung in die neuere Geschichte Ägyptens läßt ahnen, daß es sich bei der intrigenreichen und tugendsamen Liebesgeschichte zwischen einer christlichen Amazone und einem verwegenen Araber nicht nur um einen populären Abenteuerfilm handelt. 1963 produziert, in der noch ungetrübten Hoffnung auf die Kraft des ägyptischen Präsidenten Nasser zur Vereinigung der arabischen Länder, benutzt Chahine die spannende Unterhaltung, um seinen politisch-pädagogischen Botschaften größte Reichweite zu garantieren. In seiner Zeichnung Saladins, dem Wunschbild vom arabischen Führer, stehen Toleranz und eine von Macht -Interessen unabhängige Gerechtigkeit im Mittelpunkt.

Chahine, ausgezeichnet in Cannes und Berlin, gilt als der bedeutendste Protagonist des ägyptischen Kinos, das er in den 50er Jahren vom Soap-Opera-Stil befreite. In „Kairo Hauptbahnhof“ erzählte er vom abgerissenen Subproletariat der Großstädte und entwarf, treibend im Strom der Menschen, ein bewegtes Portrait Ägyptens; im „Sohn des Nils“ wurde zum ersten Mal ein junger Bauer Held eines Films. Daß Chahine selbst, der in Alexandria in einem britischen College erzogen worden war und in den USA an einer Schauspielschule studiert hatte, den Alltag der Bauern und Arbeiter auch nur aus der romantisierenden Perspektive des außenstehenden Intellektuellen kannte, wurde dem Regisseur erst später zum Problem.

„Saladin“ mit seinen Identifikationsangeboten der Stärke steht für eine Phase des neuen kulturellen Selbstbewußtseins der arabischen Welt; deren traumatischen Zusammenbruch im Sechs-Tage-Krieg von 1967 thematisiert „Der Sperling“ (produziert 1973), der, wie auch die folgenden Filme Chahines, mit dokumentarischem Material angereichert ist. Die Spiegelung Nassers in dem unfehlbaren Saladin war dem Wunschdenken und der Mystifikation einer unbesiegbaren Führerfigur geschuldet, von dem man sich die Lösung der Konflikte versprach, denen man sich selbst nicht stellen konnte.

In „Alexandria - Warum?“ (1978) und „Eine kleine ägyptische Erzählung“ (1982) wendet sich Chahine seinen Erinnerungen zu. Beide Filme sind verschlungen in der Handlung, ausufernd im Personal, emotional sehr brüchig und in den Stilen changierend. Die Auflösung der Form entspricht der Orientierungslosigkeit der Protagonisten, die ihre Bezugspunkte verloren haben und zwischen Klischee und Realität nicht mehr unterscheiden können. Chahine verrät seine große Liebe zum amerikanischen Kino; zugleich aber prägt seine Filme das Bewußtsein, daß die importierte Ästhetik für die Komplexität der eigenen Geschichte nicht taugt, ja sogar ihre Wahrnehmung verstellt. Chahine entwickelt keine eigene Bildersprache, sondern pflegt einen ironischen Eklektizismus, montiert skrupellos. Mitten ins tragische Pathos platzt er plötzlich mit einer Parodie; dokumentarische Aufnahmen vom Zweiten Weltkrieg werden mit einer grotesken Schüler-Theater-Aufführung unterschnitten; die Psyche der Protagonisten offenbart sich in dialogüberfrachteten Kammerspiel-Szenen. Dieses Gemisch aus den Trümmern zerbrochener Träume ist nicht einfach zu verdauen.

„Alexandria - Warum?“ beginnt 1942 in der ägyptischen Hafenstadt. Der letzte Rest moralischer Werte ist einer reichen und korrupten Gesellschaft unter der britischen Besatzung abhanden gekommen. Die Geschäftsmänner, die mit den Briten Geschäfte machen, fürchten den Anmarsch der deutschen Truppen, während sich ägyptische Nationalisten von ihnen die Befreiung erwarten. In Episoden verweist Chahine auf den Klassenkampf, verwickelt den arabischen Kommunisten in die Liebe zu einer reichen Jüdin. Ein ägyptischer Aristokrat kauft sich englische Soldaten, um sich an ihnen stellvertretend für die britische Besatzung zu rächen, verliebt sich in sein potentielles Opfer und wandelt sich vom Psychopathen in einen aufgeklärten Humanisten. Mit diesen verwirrenden, politische, soziale und religiöse Grenzen überwindenden Beziehungen bricht Chahine zudem moralische Tabus. Jede der von ihm gezeichneten Figuren verheddert sich in einem Netz von Konflikten und weiß nicht mehr, wem gegenüber er loyal zu sein hat. Mitten in diesen hektischen Kolportage-Roman stellt Chahine den 17jährigen Yahia, den seine Mutter auf eine britische Schule schickt, um in ihm jenen gesellschaftlichen Aufstieg verwirklicht zu sehen, der ihr versagt war. Der Junge, verrückt nach amerikanischen Filmen, zeigt sich unberührt von den Problemen seiner Gegenwart und will Schauspieler werden; allein in seinen zu Tränen rührenden Hamlet-Monologen bricht sein emotionales Chaos aus ihm heraus.

Der Film endet, als Yahia nach Hollywood reist und eine Flucht aus der eigenen Wirklichkeit antritt. Von der Mühe des Wieder-Findens seiner ägyptischen Identität im Karussell der Kulturen, handelt die „Kleine ägyptische Erzählung“. Bei einer Herzoperation fällt der Regisseur Yahia, nun eindeutig Chahines alter ego, in einen langen Traum, der ihn mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert. Gegen den erwachsenen Mann tritt in einer surrealen Gerichtsverhandlung im Inneren seines Körpers das Kind an, das er einmal gewesen ist, und klagt ihn der lebenslangen Unterdrückung an. Der Regisseur erfährt nun rückblickend die Stationen seines Lebens als eine permanente Flucht vor sich selbst. Sein berufliches und politisches Engagement entpuppt sich als der ständige Versuch, sich der Auseinandersetzung mit den eigenen Schwächen zu entziehen.

Katrin Bettina Müller

Seit gestern läuft im Arsenal im Rahmen des Horizonte -Festivals eine Retrospektive mit elf Filmen Chahines. Am 17., 18. und 19. Juni wird Youssef Chahine selbst zu den Vorstellungen kommen.

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