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Die Anderen: Gorbatschow-Besuch in Bonn - Le Parisien / L'Unita / Financial Times / Presse, Wien / France Soir / Frankfurter Allgemeine / Main-Post / Nürnberger Nachrichten

Le Parisien

Geopolitische Verwirrung stiftete der Gorbatschow-Besuch in Teilen der Auslandspresse. Im französischen Massenblatt heißt es:

Man wähnte sich gestern in Bonn auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Die Ankunft des Sowjetführers hat bei den Bundesdeutschen wahre Begeisterungsstürme ausgelöst. Riesige rote Fahnen mit Hammer und Sichel wehen überall in der Stadt, Plakate, die einen Gorbatschow mit strahlendem Lächeln zeigen, wurden an Bäumen und Mauern angeschlagen, und kaum ein Buchladen hat in dieser Woche nicht mindestens ein Schaufenster dem Buch des Sowjetführers oder der Sowjetunion allgemein gewidmet. Die Bundeshauptstadt wurde von der „Gorbimanie“ ergriffen.

L'Unita

Die Zeitung der italienischen Kommunisten ahnt eine Europäisierung der deutschen Frage.

Der Eindruck ist, daß dieses Gipfeltreffen in der deutschen Frage eine wichtige Fortentwicklung markieren wird. Vielleicht wird das nicht sofort geschehen, aber auf lange Sicht wahrscheinlich schon. Im Gegensatz zur Vergangenheit ist das Problem der Existenz von zwei deutschen Staaten in den Kontext eines europäischen Dialogs eingebracht und dadurch objektiv in seinen Konturen entdramatisiert worden. Das andere Signal vom Gipfel: In Bonn wird gerade eine Partie gespielt, bei der die bilateralen Beziehungen ein großes Gewicht haben. Doch es passiert nichts, was im Gegensatz steht zu dem Dialog, der in ganz Europa begonnen hat. Dies ist die beste Voraussetzung für einen Prozeß, der auch zur Überwindung der deutschen Anomalie mit ihrem schmerzhaftesten Ausdruck, der Mauer von Berlin, führen kann.

Financial Times

Das rosa Blatt der Börsen-Broker schreibt dazu:

Vielleicht zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird Westdeutschland von den USA und von der Sowjetunion als einer der wichtigsten Akteure auf der europäischen Bühne umworben. Nachdem es vier Jahrzehnte lang als wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg galt, ist es nun politisch erwachsen geworden. Das Tauziehen um Atomwaffen innerhalb der Nato hat gezeigt, daß Bonn nicht länger bereit ist, widerspruchslos all die traditionelle Medizin zu schlucken, die ihm von seinen wichtigsten westlichen Alliierten wie der USA, Frankreich und Großbritannien verschrieben wird.

Presse

Und Wiens konservative Tageszeitung erklärt:

Der Regierung in Bonn ist der Reformer aus dem Kreml viel willkommener als den alten Machthabern in Ostberlin, die unverändert auf Planwirtschaft setzen. Für Michail Gorbatschow ist die Reise in die Bundesrepublik von großer Bedeutung, braucht er doch einen potenten westlichen Handelspartner, der ihm mit neuester Technik unter die Arme greift.

France Soir

Die französische Boulevardzeitung kommentiert:

Aber die deutsch-sowjetische Eintracht geht noch viel weiter. Kanzler Kohl, der zwar seine Solidarität mit dem Atlantischen Bündnis bekräftigt, stellt sich gern als privilegierter Gesprächspartner Moskaus für alle mit der Abrüstung in Europa verbundenen Fragen dar. So hat er gestern seinen Gast aufgefordert, sein Arsenal an nuklearen Kurzstreckenraketen einseitig zu verringern, um einen Verhandlungserfolg in Wien über den anderen Teil der Abrüstung, den der klassischen Waffen, sicherzustellen. Die Bundesrepublik, der ökonomische Riese, gewöhnt sich nicht daran, ein politischer Zwerg zu sein und zu bleiben.

Frankfurter Allgemeine

Auch die Inlandpresse kennt nur ein Thema. Die Überregionale aus Frankfurt kommentiert zu Beginn der Gorbatschow-Visite:

Als vor zwei Jahren der große amerikanische Kommunikator Reagan in West-Berlin mit haßerfüllten Krawallen empfangen wurde, hat sich in der freien Welt niemand darüber aufgeregt. Aber daß dem großen sowjetischen Kommunikator Gorbatschow jetzt in der Bundesrepublik fast Huldigungen zuteil werden, gibt ihren Verbündeten heftig zu denken. Ihr Mißtrauen ist mit Händen zu greifen, auch wenn sie ausdrücklich erklären, daß zu solchem kein Anlaß bestehe. Tatsächlich kann heute, morgen und übermorgen nichts Grundsätzliches von Gorbatschow bewegt werden - auch nicht in dem Dutzend Abkommen, die zur Unterzeichnung bereitliegen. Denn solange die DDR bleibt, was sie ist, und solange die Sowjetunion alle ihre Nachkriegsstandpunkte gegenüber Deutschland aufs Tüpfelchen wahrt, können allenfalls Kapital und Technologie begrenzt den Weg vom Rhein in Richtung Ural nehmen. Alles übrige ist „Atmosphäre“.

Main-Post

Die in Würzburg erscheinende Tageszeitung meint:

Nur im Vordergrund wollten sie einen normalen Staatsbesuch sehen - dahinter erschienen ihnen teutonisch-dräuend die Schriftzeichen vom „Vierten großdeutschen Reich“ an der Wand. Gerade die Stars unter US-Kolumnisten schrieben sich die Finger wund über die gründelnde Psyche der Deutschen: Das klammheimliche Schielen nach dem Osten, die historische Nähe zur russischen Seele sind auch nach der als erfolgreich gelobten Stippvisite Bushs ein beherrschendes Thema in der amerikanischen Öffentlichkeit. Ungeachtet dessen, daß auch die meisten US-Bürger den sowjetischen Reformer für vertrauenswürdig erachten und „i love gorbi„-T-Shirts reißenden Absatz finden, wird die angebliche „Gorbimanie“ gerade der Deutschen mit größtem Mißtrauen beäugt.

Nürnberger Nachrichten

Die Nürnberger Tageszeitung schreibt dazu

Gorbatschow erfand jenes schamlos verführerische Bild vom „gemeinsamen Haus Europa“, das nicht nur (zwecks Durchblick) offene Fenster und Türen, sondern sogar mehrere Einfahrten und - man höre - zwei getrennte deutsche Appartements haben kann. Ist das nicht ein idealer Wortspielplatz für die verträumten, vertrauensseligen Deutschen (West), die auf jede verbale Zauberei hereinfallen? Nach ist das Haus nicht bezogen, aber auf ein Gegenbeispiel muß aufmerksam gemacht werden: Die Führung der Deutschen (Ost) zeigt nicht die geringste Neigung, es sich darin ein wenig gemütlich zu machen. Man mag es glauben oder nicht - Ost-Berlin hat sich davor gefürchtet, in seinen Zeitungen die schlimme Nachricht zu verbreiten, daß Gorbatschow in Bonn Visite macht. DDR -Bürger sollen von der Liebesaffäre nichts erfahren. Was ist nun schrecklicher, ein bißchen zuviel Überschwang oder die Angst vor jedem frischen Lüftchen?

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