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Jubel auf dem Roten Platz in Bonn

■ Gemeinsame Erklärung von Kohl und Gorbatschow / Bonn und Moskau unterstreichen Selbstbestimmungsrecht / Herbe Kritik des Kreml-Chefs an Cocom-Liste und Gemeinsamem Markt / In Bonn jubelt das Volk / Vogel fordert „Entlüftung“ des Nato-Hauptquartiers

Bonn (dpa/afp/ap/taz) - Historisches in jeder Hinsicht: Die Bonner vergaßen gestern Bush und spielten „Roter Platz“ für Gorbatschow. Und Kanzler Kohl durfte sich mit dem Präsidenten in europäischer Architektur üben: Mit großer Feier unterzeichneten sie die breit angekündigte Gemeinsame Erklärung, in der von Gorbatschows „Europäischem Haus“, wie von der Bonner „Europäischen Friedensordnung“ die Rede ist. Alle durften den zweiten Tag des Gorbatschow-Besuch einen „Höhepunkt“ nennen.

Allen voran die 5.000 BonnerInnen, die morgens auf dem Marktplatz der kleinen Stadt tobten. „Gorbi, Gorbi!!“ - der Spruch kam rüber wie jüngst auf dem Kirchentag. Der Kommunistenchef konterte pünktlich, er fühle sich auf dem Platz vor dem Rathaus „wie auf dem Roten Platz und wie unter seinen eigenen Landsleuten“. So deutete es jedenfalls Sprecher Gerassimow.

In ihrer Gemeinsamen Erklärung bekennen sich Kanzler und Präsident grundsätzlich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, zu den individuellen Menschenrechten sowie - in Abkehr von der Breschnew-Doktrin - zur freien Wahl des politischen und gesellschaftlichen Systems und zur Überwindung der Teilung Europas, sowie zum Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik. Westliche Agenturen und Beobachter waren sich am Dienstag einig: In dem Dokument habe die UdSSR erstmals westliche Wertvorstellungen gegengezeichnet.

Konkreter und kritischer wurde Gorbatschow dann vor rund 600 Managern in Köln. Dort beklagte er Behinderungen im Handel zwischen Ost und West und vor allem des Technologietransfers. In der Industrie- und Handelskammer sagte er: Sein Land würde durch „alle möglichen Formen der Diskriminierung“ daran gehindert, „Devisen in fairem Wettbewerb mit anderen zu erwirtschaften“. Beunruhigt äußerte sich Gorbatschow über die Gefahr, der europäische Binnenmarkt könne wirtschaftlich zu einer „Festungsmauer quer durch Europa“ werden. Bis jetzt habe er keine überzeugenden Argumente gehört, diese Besorgnisse zu zerstreuen. Besonders kritisch ging er auf die Beschränkung des Hochtechnologietransfers durch die Cocom-Liste des Westens ein. Die Sowjetunion erleide durch Cocom Schaden, die Bundesrepublik aber auch.

Im sicherheitspolitischen Teil der Erklärung verständigte man sich auf die Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen eines jeden Staates und auf das Prinzip, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu gewährleisten. Insbesondere, das unterschrieb Kohl auch, müsse die Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive ausgeschlossen werden.

Am zweiten Tag des Staatsbesuchs wurden ferner elf Vereinbarungen und Abkommen unterzeichnet, in die West -Berlin ebenso wie in das gemeinsame Dokument mit einbezogen ist. Vom Schutz und der Förderung von Investitionen reichen sie über die Einrichtung eines „Heißen Drahts“ zwischen Kreml und Kanzleramt. Ein Schiffahrtsabkommen scheiterte bisher an der Berlin-Frage. Am Abend gab's wieder ein Bankett, diesmal auf Einladung Weizsäckers. SPD-Chef Vogel hat derweil den Verantwortlichen in der Brüsseler Nato -Zentrale zaghaft mangelndes politisches Gespür vorgeworfen

-die Militärköpfe hatten am Montag vor dem Eintreffen Gorbatschow in Bonn Nato-Alarm ausgelöst. „Dieser Apparat“ gehöre einmal „gründlich durchgelüftet“, erkannte Vogel immerhin. Er habe sich von der Realität abgekapselt.

ar

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