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Von Bulgariens Regen in die türkische Traufe

Der türkische Ministerpräsident Özal macht aus der Vertreibung der türkischen Minderheit aus dem Nachbarstaat Bulgarien ein Politikum seines national-chauvinistischen Kurses / Besuch der Vertriebenen wird zur Show Özals  ■  Aus Kapikule Ömer Erzeren

Herren in grauen Maßanzügen erteilen Befehle: „Sobald unser werter Ministerpräsident hier ankommt, müßt ihr rufen: Hoch lebe das Mutterland! Nieder mit Bulgarien! Unser Herz schlägt für Özal! Selbst unser Blut opfern wir für ihn!“

Die Szenen könnten sich in einer beliebigen Wahlkampfveranstaltung der regierenden Mutterlandspartei von Ministerpräsident Turgut Özal abspielen. Doch in der Türkei ist derzeit kein Wahlkampf und wir sind nicht auf einem Kundgebungsplatz, sondern am hermetisch abgeriegelten bulgarisch-türkischen Grenzübergang Kapikule.

Die Befehlsempfänger sind türkische Flüchtlinge bulgarischer Staatsangehörigkeit, die in den vergangenen Wochen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Seit Tagen schon warten Tausende in der Grenzstation auf die Erledigung der Reiseformalitäten und auf die Zuweisung einer neuen Bleibe. Rund 30.000 haben bereits die Grenze passiert und in Zeltlagern oder bei Verwandten notdürftig Unterkunft gefunden. Hier an der Grenzstation wurden unter Bäumen Matratzen ausgelegt. In den Toiletten der Grenzstation wird gewaschen, am Stacheldraht flattert die Wäsche zum Trocknen.

Die Reicheren konnten mit ihren vollbeladenen Autos einreisen. Auf Handkarren haben die Ärmeren ihr Hab und Gut über die Grenze geschafft: ein paar Koffer, Matratzen, hier und da ein Kühlschrank, eine Nähmaschine.

Die türkische Hilfsorganisation Roter Halbmond verteilt von einem Lkw herab Trinkwasser und belegte Brote. Mediha verteilt ihre Lebensmittelration an die Kinder. Mediha kommt aus einem Dorf mit gemischter, türkisch-bulgarischer Bevölkung aus der Nähe Varnas. „Am 25. Mai haben wir alle, Frauen, Männer, Kinder, demonstriert. Wir wollten unsere Namen zurück, unsere Schulen. Sie schickten Panzer, Wasserwerfer. Dann haben sie das Kriegsrecht verhängt. Viele wurden von der Polizei weggebracht. Polizisten brachten uns Pässe ins Haus. Innerhalb von drei Tagen sollten wir Bulgarien verlassen. Sie wollten uns loswerden.“

Vor der Abfahrt wurde Medihas Bruder von einem Polizisten zusammengeschlagen, als er auf der Bank ihre Ersparnisse abheben wollte. Wie die anderen Flüchtlinge auch, verfügt die Familie über keinen Pfennig mehr. Die Sparguthaben der Flüchtlinge sollen vom bulgarischen Staat eingezogen werden.

Unabhängige Beobachter schätzen, daß noch während der Protestaktionen der türkischen Bevölkerung rund hundert Personen getötet wurden. Jeden Tag passieren jetzt Tausende die Grenze. Ein Ende des Flüchtlingsstroms ist vorerst nicht abzusehen. Rund 1.5 Millionen Türken, eine Hinterlassenschaft des osmanischen Vielvölkerstaats, leben heute in Bulgarien.

Türkische Schulen, türkisch-sprachige Zeitungen und Rundfunksendungen, einst Selbstverständlichkeit im bulgarischen Sozialismus, gibt es längst nicht mehr. Mit mittelalterlichen Inquisitionsmethoden versucht der Staatspräsident und Generalsekretär der bulgarischen KP, Todor Jivkov, türkischer Identität in Bulgarien den Garaus zu machen. 1984 mußten alle TürkInnen ihre Namen bulgarisieren lassen. Da wurde aus „Mediha“ eine „Magda“. Die türkische Sprache wurde in der Öffentlichkeit verboten. „In der Schule mußte ich jede Woche einmal die Hosen runterlassen“, berichtet der zwölfjährige Mehmet. Die bei Juden und Moslems vorgeschriebene, rituelle Beschneidung wurde vom bulgarischen Staat für illegal erklärt. Eltern, die ihre Söhne beschneiden lassen, drohen Haftstrafen. Die türkische Dorfhochzeit mit dem traditionellen Tanz Köcekce wurde ebenso verboten wie türkische Musikinstrumente. „Wir durften nur noch in Restaurants und unter Polizeiaufsicht unsere Hochzeiten feiern“, klagt Aynur.

Nach dem bulgarisch-türkischen Abkommen vom 18. Oktober 1925 wird der türkischen Bevölkerung Bulgariens ausdrücklich das Recht auf eigene Sprache und freie Religionsausübung garantiert. Das Abkommen stellt auch ihre Freizügigkeit unter Schutz. Sie dürfen Land und Häuser verkaufen und jederzeit in die Türkei auswandern. Um die 100.000 gingen bis zum zweiten Weltkrieg in die Türkei. Nach rüden Kollektivierungsmaßnahmen flüchteten 1950 rund 250.000 Bulgarien-Türken - kurzfristig schlossen die Türken die Grenzen. Mit einem neuen Auswanderungsabkommen zogen dann 155.000 Personen in die Türkei. Im Zuge des letzten Abkommens über die Familienzusammenführung, das 1968 mit einer Laufzeit von zehn Jahren abgeschlossen wurde, passierten 130.000 Menschen die Grenze.

Das Abkommen ist ausgelaufen. Erst an diesem Wochenende hat die Regierung in Sofia sich auf die türkische Forderung eingelassen, die Lage der türkischen Minderheit in neuerlichen Gesprächen zu behandeln.

Tränen stehen den Menschen in den Augen, wenn sie aus dem Niemandsland auf türkischen Boden kommen. Freude - Ende des Leidens, aber auch Trauer über Vertreibung und zerrissene Familien. Aber in Ruhe gelassen werden sie noch nicht. Lange vor der erwarteten Ankunft des türkischen Ministerpräsidenten hat man die Flüchtlinge vor den Bus postiert, aus dem Özal sprechen wird. Nun wedeln sie mit türkischen Fähnchen. „Allah ü ekber“ - Allah ist groß -, tönt es aus den Lautsprechern. „Mehter“, die Militärkapelle der Osmanen bei Eroberungsfeldzügen, wird gespielt. „Die Türken sind Helden. Mehter hat vor den Toren Wiens gespielt“, krächzt die Stimme des Ansagers vom Bus.

Ob sich die Flüchtlinge nun wohler fühlen? Sie sind durchaus keine Antikommunisten, keine Reaktionäre. Partisanen, die gegen die deutsche Besatzung gekämpft haben, sind dabei. Froh, der Assimilationspolitik des bulgarischen Regimes entronnen zu sein, hören sie hier national -chauvinistische Parolen. Özals große Worte: „Die Türkei ist machtvoller und stärker als Bulgarien. Wir sind 56 Millionen. Wenn ihr kommt, werden wir 58 Millionen. Wir werden immer stärker.“

Der Einpeitscher im Bus ist mit dem kümmerlichen Beifall sehr unzufrieden. „Ich habe gesagt, ihr sollt 'Alluh ü ekber‘ mitrufen. Man hört kaum etwas. Lauter also, lauter.“

Eine Stunde später ist Özals Propaganda-Show beendet. Der Helikopter hebt ab. Die Freundlichkeit der Grenzer und Zöllner hat ein Ende. Außerordentlicher Alltag kehrt in Kapikule ein. Die Duty-Free-Shops sind leer. Krisengewinnler verkaufen zu horrenden Preisen Brot, Tomaten und Käse.

„Was suchst du hier?“ schreit ein Polizist eine junge Frau an, die in Richtung Niemandsland geht. „Da steht noch ein Karren, den ich holen will“, fleht die Frau fast weinerlich. „Gut, hau‘ doch schon ab“, schallt es zurück.

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