: Kohl als Sieger Nur acht Prozent verloren
■ Konsequenz der Eurowahl für die BRD: Kohl bleibt uns als Kanzler erhalten / Bei Bundestagswahlen hätte die Koalition keine Mehrheit
Noch standen überall in der Bonner CDU-Zentrale die Requisiten des Gorbatschow-Besuches herum, als am Sonntag abend ein großes Aufatmen durch die Unionssäle ging: „Die können alle sagen, was sie wollen, wir sind stärkste Partei geblieben, immerhin, immerhin“ - so eine Wahlhelferin zur anderen, nachdem die ersten Hochrechnungen über die Bildschirme flimmerten. Jedes Ergebnis unter 40 Prozent sei schlecht, entscheidend bleibe jedoch, daß die Union nicht zweitstärkste Kraft würde.
Diese Einschätzung war in den letzten Wochen aus den verschiedensten Lagern der Union zu hören. Und die Erleichterung, die besonders Helmut Kohl und Generalsekretär Geißler am Wahlabend ausstrahlten, machte anschaulich, daß man nach den Niederlagen von Berlin und Hessen mit dem Schlimmsten gerechnet hatte.
„Es geht klar nach oben“, „die CDU kommt aus dem Tief heraus“, „wir werden weiter an der Verfestigung dieses Trends arbeiten“. So kommentierte ein strahlender Heiner Geißler das vorläufige Ergebnis - demzufolge die Union acht Prozent verloren hat.
Der Abwärtstrend ist gestoppt - behaupten seit vorgestern abend Unionspolitiker in Bonn und mit ihnen einige Leitartikler. „Die CDU wird immer eine 30-Prozent-Partei bleiben: Daß sie nicht unter diese Marge rutscht, bedeutet keineswegs, daß der Abwärtstrend aufgehalten ist“, so relativierte im Vorfeld der Europawahl ein zum Lager der sogenannten Reformer gehörender Unionist den nun herrschenden Optimismus. 38 Prozent - dies bleibt ein Ergebnis, das alles offenläßt.
Damit sind weder die innerparteilichen Querelen um die Politik der Regierung Kohl beendet, noch gibt es jenen, die mehr oder weniger unverhohlen den Abtritt des Kanzlers gefordert hatten, den letzten, notwendigen Anstoß, diesen Sturz herbeizuführen. „Wenn wir stärkste Partei bleiben, ist die Kanzlerdebatte vom Tisch“, so hatte es ein CDU -Abgeordneter vor einigen Wochen prophezeit.
Allerdings: Das Wahlergebnis ist nur einer der Gründe dafür, daß Kohl seine arg angeschlagene Position festigen konnte. Sein selbstsicheres Auftreten bei internen Treffen der CDU, der Brüsseler Nato-Gipfel und die Besuche von Bush und Gorbatschow hatten ihm in seiner Partei den dringend notwendigen Auftrieb gegeben, um der sogenannten Kanzlerdebatte ein Ende zu bereiten.
Knapp 38 Prozent - dies ist auch ein Ergebnis, das allen Lagern innerhalb der Union Munition für den innerparteilichen Streit bietet. Das sogenannte Reformerlager um Heiner Geißler fühlt sich ebenso bestätigt wie CSU-Kreise. „Wir haben einen klaren, eindeutigen Wahlkampf gemacht, und auch wenn er für viel Aufregung gesorgt hat, so ist nun zu sagen, es war genau das richtige.“
So selbstbewußt gab sich am Wahlabend denn auch der in letzter Zeit von seiner Partei immer heftiger kritisierte Generalsekretär. Und in der CSU fühlte man sich angesichts des Abschneidens der „Republikaner“ in der These bestärkt, man müsse sich dieser Gruppe stärker nähern.
Und schließlich Kohl. Er wird auch durch dieses Ergebnis nicht gezwungen, seine Strategie der Beschwörung von Erfolgen aufzugeben. Doch für die Abrechnung mit den „Nörglern“ reichen Kohl die 37 Prozent auch nicht.
Viele Fragen bei der SPD
Alles offen - bei der SPD sind es vor allem die Fragen. Allzu sicher schien den Sozialdemokraten, daß sie im Aufwind der Wählergunst lägen und aus der Europawahl als stärkste Partei hervorgehen würden. Nun spricht die Geschäftsführerin Anke Fuchs nur noch lahm von einem „Kräftemessen“, vermeidet Äußerungen zur strategischen Lage der Sozialdemokraten. Es sei eben „ein sehr schwerer Wahlkampf“ gewesen, man habe Schwierigkeiten gehabt, „zu mobilisieren“ und die schwache Wahlbeteiligung sei „insbesondere“ im eigenen Klientel zu suchen. Was es denn eigentlich gewesen ist, wofür die SPD mobilisieren wollte - darauf bleibt Anke Fuchs an diesem Wahlabend eine Antwort schuldig. „Gestaltungsoptimismus“ wollten die Parteistrategen mit einem Wahlkampf im Yuppie -Stil wecken - nun, da der Optimismus geschwunden ist, dürfte im Ollenhauer-Haus eine kleine Strategie-Debatte auf der Tagesordnung stehen.
Daß es bei der Europawahl keine Mehrheit für Rot-Grün gegeben hat, verwunderte gestern auch den FDP-Graf Lambsdorff. Der Liberale erging sich in Andeutungen über eine schwieriger gewordene „Mehrheitsbildung“ in der Bundesrepublik und die „erhöhten Chancen der FDP“ dabei, doch dementierte er postwendend jedwede Gedankenspiele über eine rot-grün-gelbe Koalition. Zu dem Vexierspiel gehört aber auch die Betonung, daß die FDP ohne Koalitionsaussage diesen „Erfolg“ errungen habe - und auch die süffisante Bemerkung, „was das wohl bedeutet“, daß die SPD im Saarland besser abschnitt als im Bundesdurchschnitt.
Sichtlich genießen die Liberalen, daß das Wahlergebnis Koalitionsspekulationen in alle Richtungen auslöst. Immerhin hat die grüne Vorständlerin Hammberbacher die Möglichkeit einer „Ampel„-Koalition in der „Bonner Runde“ bereits mit einem Forderungskatalog konkretisiert. Alles offen.
Magerer Zuwachs bei Grün
Die Grünen feierten die Europawahl bereits seit dem frühen Sonntag nachmittag vor den Toren Bonns im Haus Wittgenstein. Doch wer insgeheim erwartete, auch diesmal könne der Trend nur ihnen in die Arme arbeiten, täuschte sich. Als die ersten Ergebnisse bekannt wurden, mischte sich denn auch bei einigen stille Enttäuschung in die ausgelassene Stimmung bei Kebab-Ständen und ausländischer Folklore.
Der magere Zuwachs um 0,2 Prozent auf 8,4 Punkte ließ denn auch sofort vielfachen Interpretationen Raum. Die „rot-grüne Besoffenheit“ in der Partei habe die Wähler abgeschreckt, erklärte die EG-Spitzenkandidatin Dorothe Piermont. Die Vorstandssprecherin der Partei, Verena Krieger, zeigte sich enttäuscht, daß der „Denkzettel“ für die Regierungskoalition nicht viel größer ausgefallen sei. Der realpolitisch orientierten Strömung in der Partei macht dagegen Sorge, daß nun die Protestwähler nicht mehr bei den Grünen, sondern bei den Rechten landen würden. Für sie liegt das gerade auch daran, daß die Grünen den Wählern nicht konkreter sagen würden, was die Bevölkerung bei einem gesellschaftlichen Wandel zu „gewinnen“ habe, meinte Udo Knapp.
In einem ersten Treffen zog der Parteivorstand das Fazit, die Grünen könnten nicht mehr so selbstverständlich davon ausgehen, daß sie von einer geringeren Wahlbeteiligung profitieren. Offenbar sei die Partei „profilloser“ und „langweiliger geworden“ und habe einen Teil ihrer „Mobilisierungsfähigkeit verloren“.
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