: Verlustobjekt Erde
■ Orpheus im All - Eine planetarische Peep-Show
Lisa Wilczok
Zweifellos ist Der Heimatplanet die derzeit „schärfste Bildband-Droge“ (taz) auf dem Büchermarkt. Die großformatige amerikanische Publikation, im März auch in der Bundesrepublik erschienen, präsentiert 150 einzigartige Fotos von der Erde und vom Weltraum sowie zahlreiche herrliche kleine Texte von Astronauten, Liebeserklärungen an die Erde. Das Buch ist schön. Das ist sein Schrecken. Requiem
Von ferne empfinden viele der Astronauten zum ersten Mal die Lebendigkeit und Schönheit der Erde. „Die Schönheit der Erde ist unendlich zart und reich, eine wunderbare Harmonie strahlender und sanfter Farben“, wundert sich der Franzose Patrick Baudry. Sein Text ist beispielhaft für alle Texte. Die Liebe, die die Astronauten empfinden, ist keine besessene Liebe, keine qualvolle Leidenschaft, sondern distanziertes Fühlen, feines Fließen. „Die Erde war so klein, blau und erschütternd einsam - unsere Heimstatt, die wir erhalten müssen“, harmoniert über alle irdischen Grenzen hinweg der Russe Leonow mit dem Amerikaner Irwin: „Dieses schöne, warme, lebendige Objekt sah so zerbrechlich, so zart aus...“ Die Männer, die hier dichten, sind nicht die Söhne, die in allen Zeiten die warmen Hände der alternden, sich allmählich entfernenden Mutter besingen. Die Astronauten haben Mitleid mit der Erde. Planetarische Peep-Show
Die Überwindung der Schwerkraft erfordert bestens präparierte Erdmenschen. Den finanziellen und wissenschaftlichen Wahnwitz des militärisch-industriellen Komplexes macht der Astronaut vergessen. Das Produkt, der Trip durchs All, wirkt schwerelos. Es sind jahrelang trainierte, auserwählte Spezialisten, die in den Weltraum fliegen. Der letzte Trip wird zur Elite-Exkursion. Bei seinem großen Solo hat Er, der letzte, erste Mann, weit weg von der Erde endlich sicheren Boden unter den Füßen. „Es spielt keine Rolle, in welchem See oder Meer du Verschmutzungen entdeckt hast oder über welchem Kontinent gerade ein Wirbelsturm entsteht. Da oben bist du der Hüter der ganzen Erde.“ (Kosmonaut Jurij Artjuchin, UdSSR) Beim Blick zurück setzt er sein Auge ein, Restorgan in der „Stille des Weltraums“, das zielgenau fixieren und wohlig zerfließen kann. „Über den Gipfeln ist Ruh...“
Ausgreifen, Wachsen, Entfalten - Die Raumfahrt des 20. Jahrhunderts pervertiert die utopische Sehnsucht, den uralten menschlichen Wunsch zu fliegen. Der Vorstoß in den Weltraum ist nicht Produktion, Entfaltung, Erweiterung der Wahrnehmung, sondern das Gegenteil, innerer Zwang. Männliche Tollwut, postnatale Platzangst, der die Erde seit jeher zu eng ist, befreit sich für Momente von der Zeit und findet im All die Muße zur cineastischen Ergriffenheit. „Ich hielt den Atem an. Da rollte 300 Kilometer unter mir ein kolossales visuelles Schauspiel ab, aber es bot sich stumm dar. Es gab keine triumphierende inspirierte Sonate oder Sinfonie. Jeder mußte sich die Musik dieser Sphäre im Kopf selbst schreiben.“ (Charles Walker, USA) Er bringt die Erde hinter sich und landet. Kurzer Disput
Frau: “...Und in der Fremde können Männer weinen...“
Mann: „Was hast du eigentlich, auch Frauen fliegen in den Weltraum.“
Frau: „Früher hat man Affen genommen.“ NostALLgie
Während der Astronaut wächst, wird die Erde immer kleiner. „Schließlich schrumpfte sie auf die Größe einer Murmel - der schönsten Murmel, die du dir vorstellen kannst.“ (James Irwin, USA) Sein Landsmann Buzz Aldrin hält seinen Daumen vor die Erde und kann sie „einfach dadurch aus dem Weltraum verschwinden lassen“. Der aggressive Impuls, der männliche Urtrieb, die Erde zugrunde zu richten, weicht in der Weite des Weltraums einem inneren Frieden. Im Vakuum herrscht Totenstille. Er hat die Erde kleingeKRIEGt, jetzt kann er sie lieben. Orpheus im All
Die Astronauten, Mitglieder wissenschaftlicher Eliteeinheiten, geben keine trockenen Kommentare von sich, sondern formulieren kleine Gedichte, rhythmisch pulsierende, lebendige Ergüsse von präziser Schönheit.
Orpheus, mythischer Sänger, der der Unterwelt, dem Schoß, entrinnt, Orpheus, dem die Zunge wächst, die Stimme schwillt, als er Die Frau, Eurydike, entmächtigt weiß... Längst hat er die Erde vergessen - und feiert die Erde im All. Heimat
Amerikaner und Russen singen gemeinsam. Das orphische Orchester ist international. Für die Zusammenstellung des Buchs haben Nasa und UdSSR-Raumfahrt ihr Archivmaterial komplett zur Verfügung gestellt. Wissenschaftsverlage aus Ost und West arbeiteten grenzüberfließend zusammen. Mit der Förderung von Publikationen wie Der Heimatplanet verschafft sich der kosmische Imperialismus seine romantischen Nischen. Der schöne Schein läßt den aggressiven Kern der Raumfahrt vergessen. Ein versöhnliches Produkt wie dieses Requiem auf die Erde ist kein utopischer Gegenentwurf zum „Krieg der Sterne“, sondern seine hymnische Feier. Die Erde...
„Die Erde ist eine der Blumen des Himmels“, hat Hölderlin vor irdisch langer, kosmisch kurzer Zeit gesungen. Um mit der dunklen Blume zu wachsen, hat er nicht ins All reisen müssen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen