Das Gespenst einer großen Koalition geht wieder um

Gemessen an den Ergebnissen der Europa-Wahlen könnte gegenwärtig weder die CDU noch die SPD eine ausreichende Mehrheit vorweisen  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Seit vergangenen Freitag ist das Bonner Regierungsviertel nahezu verwaist; die Volksvertreter haben die vollgestopfte letzte Sitzungswoche mit hängender Zunge hinter sich gebracht. Von Urlaubsstimmung trotzdem keine Spur - dazu waren die Ergebnisse der Europawahl nicht angetan. Ob beim exklusiven Sommerfest der 'Bild'-Zeitung oder beim Festbankett zu Ehren des Fünfundsechzigsten von Rainer Barzel - es wurde gerechnet. Die Regierungskoalition hat rechnerisch keine Mehrheit mehr, für grün-rote Ambitionen reicht es ebenfalls nicht; dazu bedürfte es einerseits einer Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen - die CDU/CSU dagegen könnte es nur mit den „Republikanern“ schaffen. Das öffnet Raum für Spekulationen, für Rechenexempel - und für ein Auferstehen des Gespensts der Großen Koalition.

Welche Ironie, daß die CDU just zu diesem Zeitpunkt in Rainer Barzel einen Architekten der Großen Koalition von 1966 für sein Lebenswerk ehrt. Ein „Kartell der Angst“ wurde damals spöttelnd genannt, was für die SPD dann das Entree zur wirklichen Regierungsmacht war: Die erste Minikrise des Wirtschaftswunders brachte die CDU ins Trudeln, die außerparlamentarische Opposition warf ihre Schatten voraus, und die NPD war im Aufwind. Dem sollte die große Koalition entgegensteuern - mit Notstandsgesetzen und einer Änderung des Wahlrechts: Mit dem undemokratischen Mehrheitswahlrecht a la Großbritannien wollten die beiden Volksparteien die Regierungsmacht auf ewig sichern.

Man erinnert sich: Es klappte nicht; einerseits trickste Herbert Wehner die CDU aus, andererseits trieben Notstandsgesetze und die frühere NSDAP-Mitgliedschaft des Kanzlers Kiesinger die Linke auf die Barrikaden. Nun geht das abgehalfterte Gespenst erneut um - vorläufig nur in den Unterständen des Regierungsviertels. Für die Große Koalition steigt der IG-Chemie-Vorsitzende Hermann Rappe in der 'Bild‘ -Zeitung in die Bütt; er schlägt auf die REPs ein und fürchtet in Wahrheit die Koalition mit den Grünen, die dem SPD-Rechten wohl schlaflose Nächte bereitet. Doch das Wesen eines Gespensts ist seine körperlose Struktur: Kronzeugen wie Rappe sind selten; dafür werden Stellungnahmen neu interpretiert: Wie soll man Willy Brandts Lob für die Ostpolitik der Bundesregierung verstehen; was kann Erhard Eppler in seiner Rede zum 17.Juni gemeint haben, als er sich mit Adenauers Westintegration aussöhnte und zugleich der Union Gleiches für Brandts Politik andiente? Wie dürfen die Aussagen des rheinland-pfälzischen SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping verstanden werden, er könne sich SPD-CDU -Koalitionen auf kommunaler Ebene vorstellen? Und wie weit soll das große Bündnis gegen rechts gehen, von dem der niedersächsische SPD-Oppositionsführer Schröder spricht?

Am leichtesten tut sich mit der Frage noch die SPD. SPD -Chef Jochen Vogel hat noch während der Verhandlungen um eine rot-grüne Regierungsbildung in Berlin erklärt, die SPD sei bereit, mit jedem zu koalieren - wie es die Lage auf kommunaler oder Landesebene erfordere. Lange hat Vogel auch geschwankt, ob eine große Koalition in Berlin bis zur Bundestagswahl Ende 1990 nicht taktisch geschickter wäre. Der CDU hätte es die Propaganda gegen die SPD sicherlich erschwert. „Natürlich“ sei die Möglichkeit einer großen Koalition nun angesprochen worden, gibt SPD-Sprecher Eduard Heußen zu, aber „sofort plattgemacht“ worden: Das käme nur im „äußersten Notfall“ in Frage. Wo der liegt, läßt Heußen offen. In der Fraktionssitzung hat sich Egon Bahr vehement gegen das große Koalieren ausgesprochen, hört man. Doch andere SPDler fragen ungeniert, ob die Erfahrung von 1966, daß nämlich die große Koalition nur die Ränder stärkt, überhaupt noch stimmt. Das Zusammengehen müsse nur richtig begründet sein, argumentieren sie: Nur eine große Gemeinsamkeit sei in der Lage, die Chancen aus Gorbatschows neuem Denken umzusetzen; nur zusammen könne es gelingen, Arbeitslosigkeit, Verkehrs- und Umweltprobleme und den technologischen Wandel zu meistern. Verwiesen wird auf die Gemeinsamkeit hinter den Kulissen, die SPD und CDU zum Jahresanfang bei der Rentenreform praktizierten. Nur nach einem „Notbund“ gegen die „Republikaner“ dürfe es nicht aussehen.

Doch vor der Bundestagswahl kommt Bayern. Dort wird im Frühjahr nächsten Jahres gewählt. Bleibt die CSU dabei, eine Koalition mit den „Republikanern“ auszuschließen, und verharrt die FDP unter der Fünf-Prozent-Hürde, dann kommen beim absehbaren Verlust der absoluten CSU-Mehrheit eigentlich nur die Sozialdemokraten in Frage - ob das der CSU nun schmeckt oder nicht. Außerdem brächte eine Koalition mit den REPS die Bonner Regierung ins Wanken, denn, so haben die Liberalen signalisiert: dies wäre Anlaß zum Absprung der FDP aus der Bonner Koalition. Je näher das Gespenst heranwallt, desto zurückhaltender werden die Politiker: Er werde die Frage „zur Unzeit nicht lostreten“, erklärte der südbayerische SPD-Vorsitzende Peter Glotz der taz. Und CSU -Chef Waigel knurrte nur, ihm reiche es „für dieses Jahrhundert mit großen Koalitionen“.

Bei denen, die im Falle einer großen Koalition außen vor blieben, bestehen keine Ängste - im Gegenteil; bei der FDP ist eh eine zunehmende Lust an der Opposition auszumachen. Seit der bayerische FDP-Vorsitzende Josef Grünbeck im Frühjahr darauf verwies, die FDP bräuchte eine Regenerationszeit in der Opposition, hat die Parole Wirkung gezeigt. Zwar könne, so war letzte Woche sogar zu hören, selbst Lambsdorff sich inzwischen eine Ampel-Koalition aus Rot-Grün-Gelb vorstellen, doch ist solches Gedankenspiel noch nachgeordnet.

Bei den Grünen schließen weder Fraktionssprecherin Antje Vollmer noch die Parteivorständlerin Verena Krieger eine große Koalition aus. Verena Krieger macht auch keinen Hehl daraus, daß ihr das lieber wäre als der forcierte Realo-Ritt in die Regierungssessel. Höchstens bei den realpolitisch orientierten Grünen ist einige Unruhe auszumachen, es könne mit dem eigenen Fahrplan nicht klappen. Doch den hessischen Realos, die wegen der Mehrheitsarithmetik die Ampel -Koalition propagieren, schlägt auch Abneigung aus den Reihen der SPD entgegen: Dort wird befürchtet, die beiden Giftzwerge FDP und Grüne würden die SPD in einer Dreier -Koalition um jedes eigene Profil bringen.

Ob das Gespenst die parlamentarische Sommerpause übersteht, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob die Bundesregierung mit Anstand und ohne Katastrophen diese Zeit übersteht. Eines darf schließlich nicht vergessen werden: Die Große Koalition 1966 begann mit einem Kanzlersturz. Das rechte Kampfblatt des Springer-Konzerns, 'Die Welt‘, hat bereits Flagge gezeigt. In einem Kommentar wird der CSU in Bayern die SPD als Koalitionspartner angedient. Nicht nur dort: „Ein Ausweg aus einer so verfahrenen Situation könnte dann eine große Koalition sein - mit welchen Köpfen an der Spitze, sei einmal dahingestellt. Aber es fällt schon auf, wie geschickt und ungeniert sich Lothar Späth und Oskar Lafontaine Bälle zuspielen“, schreibt der Leitartikler. Man wird sehen: demnächst im Bonner Theater.