: Statt Leben im Knast im Alltag Leben lernen
■ „Betreutes Wohnen“ - die Alternative zum Jugendstrafvollzug / Justiz-und Sozialsenator arbeiten noch immer an überfälligem Konzept
Betreutes Wohnen ist eine Alternative zum Jugendstrafvollzug. Zu diesem Ergebnis kamen Staatsanwälte, Richter, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer und Vertreter von verschiedenen Institutionen aus Strafvollzug und Gerichtshilfe bei einem Fachgespräch der Hans-Wendt Stiftung. „Es ist eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit, die Jugendlichen immer wieder einzusperren, wenn man mit offenen Augen sieht, was die eigentliche Ursache ihrer Kriminalität ist,“ Hella Stell, in der Bremer Projektgruppe Ambulante Hilfe engagiert, weiß als Anwältin vieler junger Straffälligen, wovon sie spricht: „Die Jugendlichen stammen oft aus mehrfach-belasteten Familien, haben bereits eine Haftkarriere hinter sich und bis sie acht oder zehn Jahre alt sind, meistens schon zehn Betreuungsstellen kennengelernt.“ Stell berichtet von Jugendlichen, die als 18jährige schon drei, als knapp über 20jährige viereinhalb und mehr Jahre Haft hinter sich haben: „Fast immer handelt es sich um Eigentumsdelikte. Körperverletzung war noch keine dabei.“
Herta Stell hat eine bestimmte Zielgruppe im Blick, wenn sie Jugendliche per „Betreutem Wohnen“ vor dem Knast bewahren oder deren Haftstrafe verkürzen will. Die KollegInnen aus
dem Experten-Plenum stimmen bei: Etliche schildern Fälle, in denen sogar schon 35 und mehr „Betreuer“ mit dem „Probanden“ „gearbeitet“ haben: Knast, Heim, Jugendvollzugsanstalt, Sozialamt, Bewährungshilfe, Polizei sind dabei die Stationen. Ein junger Mann hat innerhalb eines Jahres sogar 18 Institutionen der Hilfe in Anspruch genommen, ein anderer kam auf 70 „Helfer“. Bei diesem Drehtüren-Effekt, der die Straffälligen innerhalb der Institutionen quasi von Klippe zu Klippe wirft, bleiben Rückfälle nicht aus.
Anders ist es beim Konzept des „Betreuten Wohnens“: Es sorgt für eine durchgehende soziale Betreuung und zwar dort, wo der Jugendliche lebt. Per Hilfe zur Selbsthilfe wird er zunächst an eine eigene Wohnung (meistnur ein möbliertes Zimmer) herangeführt. Die Betreuung setzt deshalb schon vorbereitend in der Haftsituation ein. Individuelles Wohnen (abseites von Heimen und Wohngruppen) ist Voraussetzung und zentrales Problem für die Entwicklung eines eigenverantwortlichen und straffreien Lebens. Über die Wohnung und deren Gestaltung entwickeln sich in der Regel auch die lebensnotwendigen sozialen Kontakte, die anfangs der Betreuer des Haftentlassenen vollständig (und damit auch zeitintensiv) ersetzen muß.
Entsprechend gliedert sich die Betreuung in eine erste, tägliche und sehr intensive Betreuungsphase. Erst nach ca. anderthalb Jahren sind erste Erfolge zu beobachten: Betreutes Wohnen ist ein langfristiges Konzept. Einkaufen gehen, Monatseinkommen verwalten, und vor allem: Vertrauen zu Bezugspersonen entwickeln, die den „Probanden“ stabilisieren, ihm helfen, ein eigenes Lebenskonzept zu entwerfen, das ihn trotz der problematischen Sozialisation zu eigenen Formen von materieller Absicherung und Lebensinhalten finden läßt. Die Betreuung führt in weiteren Phasen dann über nur noch wöchentliche und stundenweise Treffen
bis hin zur Ablösung des Betreuten von seinem Betreuer, sobald er nach dem Prinzip „Leben lernen im Alltag“ seine Selbständigkeit erlangt hat. Diese Erziehung hat Vorrang vor Strafe.
Das meint auch der Gesetzgeber, der mit dem § 72 BSHG einen einklagbaren Rechtsanspruch auf „Hilfe zur Überwindung von besonderen sozialen Schwierigkeiten“ festschreibt: „Wenn besondere Schwierigkeiten der Teilhabe am sozialen Leben entgegenstehen, ist Hilfe zu gewähren, wenn sie aus eigener Kraft dazu nicht fähig sind,“ beschreibt Hans-Ulrich Weth, Professor an der Evang. Fachhochschule für Sozialwesen in Reutlingen, die
Rechtsgrundlage für Konzepte wie „Betreutes Wohnen“. Bis 1974 sei die Gefährdetenhilfe nur sollvorschrift gewesen: Daß nach dem Subsidiaritätsprinzip des Jugendgerichtsgesetzes inzwischen alle haftverkürzenden oder -ersetzenden Maßnahmen Vorrang vor dem Gefängnis haben, sei zu einigen Sozialhilfeträgern noch nicht durchgedrungen.
In Bremen stecken Diskussion und praktische Umsetzung des Konzepts noch im Labyrinth der Amtsstuben: Lange versprochen und längst überfällig ist das Konzept zur Straffälligenhilfe, das Sozial-und Justizsenator gemeinsam erarbeiten wollen. Volker Kröning hat es den Teilnehmern
an dem Fachgespräch in spätestens einem halben Jahr zugesichert. Ohne dieses Fachprogramm können die fachlichen und finanziellen Voraussetzungen nicht geklärt werden. In Bremen, so die Helfer aus Justiz-und Sozialbereich, müßten an jedem x-beliebigen Stichtag 40-60 Hilfesuchende betreut werden können. Sechs Planstellen seien dazu sicherzustellen. Einhellige Meinung der Experten: der Betreuunsschlüssel müßte bei 1:4 festgelegt werden. In Tagessätze umgerechnet ergäbe dies bei ambulanter Betreuung Kosten von rund DM 150, -pro Tag. Der Tagessatz in geschlossenen Verwahrungsanstalten liegt dagegen bei DM 250,-. Unverständlich schien den nicht-bremischen Fachreferenten, daß in Bremen die rechtspolitische Zielsetzung vom Sozialsenat unterlaufen werde. Hierzu trug auch Erhard Heintze, Sprachrohr des Sozialsenators, mit bei, als er behauptete, daß von den 40 bereitgestellten Plätzen in Bremen nur 25 belegt seien.
Die Anwälte und Sozialarbeiter beklagten dagegen, daß sie für Betreutes Wohnen geeignete Jugendliche nirgends unterbringen können. Die Erfolge sprechen unterdessen für sich. Inhaftierung bewirkt keine Verhaltenänderung: Schon fünf Jahre nach ihrer Entlassung aus der JVA sind 80 % der Haftentlassenen rückfällig. Projekte wie die ambulante Hilfe oder der Verein für Bewährungshilfe in Bremen verzeichnen dagegen in ihrer jahrelangen Praxis nur in Einzelfällen erneute Straffälligkeit ihrer Schützlinge.
Birgitt Rambalski
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