: Strahlenschutz bei Siemens eine Farce
Der an Krebs erkrankte Leiharbeiter Demirci war mit 1.350 rem Knochendosis belastet / Trotz „strahlendem“ Gürtel weiter in Atombetrieben beschäftigt / Demirci sollte mit 60.000 Mark bestochen werden, eine von ihm gestellte Strafanzeige zurückzunehmen ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Karlstein/Frankfurt (taz) - Der Strahlenschutz bei der Alkem in Hanau und der RBU in Karlstein ist offenbar stark löchrig. Mit seinem Hosengürtel, an dem nach offiziellen Angaben eine Strahlenbelastung von 41.000 Bequerel Cäsium 137 gemessen wurde, konnte der türkische Leiharbeiter Necati Demirci noch monatelang die Kontrollschleusen der beiden Atomfirmen passieren, ohne Strahlenalarm auszulösen. Und auch der Strahlenpaß schützte den Türken nicht vor weiteren Strahlenbelastungen: Erst ein Jahr nach Reparatur- und Reinigungsarbeiten in den heißen Zellen des Atomversuchslabors der Siemens AG in Karlstein, bei denen zwischen August 1985 und April 1986 insgesamt 128 Menschen kontaminiert wurden, wurde Demirci von der Leiharbeiterfirma Böhm in Hanau nicht mehr in den Kontrollbereichen der atomaren Arbeitgeber beschäftigt.
Demirci ist inzwischen aufgrund seiner Plutoniumverseuchung unheilbar an Krebs erkrankt. Der „Fall Demirci“ wurde am letzten Donnerstag in einer ARD-Dokumentation vorgestellt.
Der Strahlenpaß des Türken, der gestern in Karlstein in Kopie von dem bayerischen Landtagsabgeordneten und Hochschullehrer Prof. Armin Weiss vorgelegt wurde, bescheinigte Demirci Monat für Monat, entweder nicht- oder nur gering strahlenbelastet zu sein. Erst im Januar 1987 trug die Leiharbeiterfirma Böhm, die paradoxerweise den Strahlenpaß des Türken führte, eine Knochendosis Americium von exakt 1.350 rem in den Paß von Demirci ein - nach Professor Weiss eine „unglaubliche Überschreitung“ des zulässigen Dosisgrenzwertes, der selbst nach der alten Strahlenschutzverordnung bei 150 rem angesiedelt gewesen sei. Nach der neuen Strahlenschutzverordnung beträgt der Grenzwert für die noch zulässige Knochendosis nur noch 30 rem. Innerhalb weniger Monate wurde der Türke arbeitsunfähig; die Ärzte diagnostizierten eine Krebserkrankung.
Im Mai dieses Jahres erstattete Demirci dann Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung sowohl gegen die Siemens AG, der die beiden Atomfirmen gehören, als auch gegen seinen eigentlichen Arbeitgeber, die Leiharbeitsfirma Böhm in Hanau. Wie die taz gestern in Erfahrung bringen konnte, sollte Demirci noch im Krankenhaus mit 60.000 Mark von einem ihm unbekannten Herrn dazu bewogen werden, seine Strafanzeigen zurückzuziehen. Demirci lehnte dies nach Rücksprache mit seinem Anwalt ab, obgleich er derzeit nur Sozialhilfe bezieht.
Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), die Initiative Umweltschutz (IUH) in Hanau und die Aschaffenburger Kreisgruppe des BUND wollen deshalb in den nächsten Tagen zu einer Spendenaktion für Demirci und seine Familie aufrufen. Der Türke sei nach dem im belgischen Mol verseuchten und inzwischen an Krebs gestorbenen Deutschen Gerhard Strack das zweite, bekannt gewordene Opfer der Atom und Plutoniumindustrie in der Bundesrepublik, meinte Eduard Berhard vom BBU-Bundesvorstand.
Für Professor Weiss haben im Falle Demirci sämtliche Kontroll- und Überwachungsmechanismen in den Atombetrieben, in denen der Türke beschäftigt war, versagt: Die Raumüberwachung habe ebensowenig funktioniert, wie die Filmplaketten und Stabdosimeter, die von den Arbeitern in den Kontrollbereichen ständig getragen werden müßten. Und ein weiterer „Skandal“ komme hinzu. Im Strahlenpaß von Demirci waren noch nicht einmal die Einsatzorte des Leiharbeiters eingetragen.
Für den BUND und den BBU wirft der „Fall Demirci“ deshalb erneut ein „grelles Schlaglicht“ auf die „langjährige schleichende Gefährdung und Vergiftung durch die plutoniumverseuchende und strahlenverursachende Atomindustrie“.
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