GNADENLOS SCHLECHT

■ „Das Kaffeehaus“ in der Freilichtbühne an der Zitadelle

Ein junger Kaufmann ist der Spielleidenschaft verfallen, gibt sich ihr nächtelang hin und verpraßt dadurch nicht nur sein Vermögen, sondern vernachlässigt darüber auch seine Frau. Ein mitleidender Kaffeehauswirt versucht selbstlos, die Sache ins Lot zu bringen, indem er den Jungkaufmann mit Vorhaltungen bepflastert. Der Spielhallenbesitzer, ein intriganter Adeliger, und eine verschlagene Dienerschaft dagegen setzen alles daran, das edle Vorhaben zu sabotieren. Herz und Schmerz, Liebe und Triebe tanzen im Karneval von Venedig Ringelreigen. Carlo Goldoni schrieb über sein Stück: „Es hat ebensoviel verschiedene Charaktere wie Personen.“

Eine feine Komödie für gute und leidenschaftliche Schauspieler. Aber in dieser auf ihre spezielle Weise außergewöhnlichen Inszenierung ist es ganz und gar wurscht, was Goldoni wollte oder nicht wollte. Wenn die Story nicht von ihm wäre, hätte sie auch von Shakespeare, Aristophanes, Peter Zadek oder sonstwem stammen können.

Schauspielkunst ist etwas mehr als sich bewegen und dabei Text aufsagen, möchte man meinen. Aber das ist hier nicht so wichtig. Andreas Bißmeiers vorherrschende Ausdrucksweise ist ein quäkendes Kreischen, womit er offenbar die ständige Erregung des edelmütigen Kaffeehauswirtes Ridolfo darstellen will. Auch sonst bemüht er sich wacker, seiner Rolle nicht die geringsten Nuancen zu verleihen.

Sicher ist es schwierig, in einer Freilichtbühne zu spielen. Man muß schon recht laut sein, um gehört zu werden. Nuancen sind da nicht viele drin. Zudem sind die Quellen der Ablenkung und unerlaubten Einflußnahme - Passagiermaschinen im Anflug auf Tegel und der Lärm der Vögel - ungleich größer als in geschlossenen Räumen. Aber kann das ein Grund sein, den Kampf von vornherein verloren zu geben? Denn Bißmeier steht in seinen Bemühungen nicht alleine. Die Inszenierung strotzt nur so von Querschlägern und Merkwürdigkeiten. Jürgen F. Schmid als Jungkaufmann Eugenio ist eine gelungene Mischung aus Lex Barker und Siegfried mit einem hinreißenden juvenil-teutonischen Scharm. Pandolfo, der Spielhöllenbesitzer (Peter Flechtner), bringt den Heiner -Müller-Touch mit, er ist genauso, wie man sich einen Profizocker vorstellt: cool, gemein, verspiegelte Sonnenbrille, macht sich mit einem Stilett die Fingernägel sauber. Hanna Metzgers Beitrag - sie spielt die Placida, eine Frau, die ihren im Karneval untergetauchten Gatten sucht - ist die Familie Hesselbach, den sie mit einem bezaubernden hessischen Akzent einbringt. Chajim S. Koenigshofen als adeliger Intrigant Don Marzio verleiht seiner Rolle etwas Aalglattes, Schmieriges, Mephistophelisches - sein hemmungsloses Chargieren ist herrlich anzusehen. Der Kranz des besten Schauspielers gebührte zweifellos ihm, wenn sein Tun in dieser an Denkwürdigkeiten reichen Inszenierung nicht noch von einer andersartig herausragenden Leistung übertroffen worden wäre: Astrid Müller spielte die vernachlässigte Gattin Eugenios mit der Ausstrahlung und dem Tempo einer betagten Landschildkröte: gaaaanz laaangsaaam. Verwöhnt von wenigstens einigermaßen akzeptablen Leistungen im Off -Theater, mochte man kaum glauben, was man da sah und hörte, und langsam, aber sicher erlag man der Faszination, die von ihrer völligen schauspielerischen Unfähigkeit ausging. Ihre Leistung gab dem Stück eine neue Qualität, eine faustische Wende: Der Intrigant, der Spielhöllenbesitzer und das elende Dienergesindel, sie sind die wahren Wohltäter, während der so selbstlos scheinende Kaffeehauswirt den scharmanten jungen Mann nur zurück in die Ehehölle locken will.

Es fällt schwer, einen geeigneten Maßstab zur Beurteilung zu finden. Man könnte mit moralisch-juristischem Vokabular operieren, von gemeinschaftlich mit außerordentlicher krimineller Energie begangenen Kulturverbrechen reden, zu deren Verfolgung sich leider keine Staatsanwaltschaft finden wird, weil die entsprechenden Gesetze fehlen. Je mehr man aber über das Geschehene nachgrübelt, desto weniger kann man sich ihm entziehen. Nein, hier paßte alles zusammen, weil es nicht zusammenpaßte. Es war Schmierentheater im schönsten und besten Sinne, ohne die beleidigende Komponente, die in dieser Bezeichnung mitschwingt: eine unvergleichliche Mischung aus Dilettanismus und Talent, aus unfreiwilligem Humor, Mittelmäßigkeit, Klamauk, Akrobatik, schreiender Unfähigkeit, schönen Kostümen und netten Einfällen. Und auf einmal ist man milde gestimmt: Wo gibt es denn heute noch richtig schlechtes Theater? Selbst große Regisseure müßten zehn Jahre üben, um diesen unvergleichlichen Effekt hinzukriegen, der hier Herbert Fischer scheinbar ohne Anstrengung gelungen ist. Und jede kleine Off-Theater -Klitsche kann doch heute schon aus einer bunten Palette talentierter Laien- und Berufsschauspielerinnen auswählen und ihre Elaborate mehr oder weniger erfolgreich mit tiefsinnigen Inszenierungsgedanken belasten. Ist nicht vielmehr Mittelmäßigkeit das wahre Verbrechen?

Nein, die Vögel, diese gemeinen Biester, die die Aufführung immer wieder mit einem häßlichen, meckernden Gelächter überschütteten, sie sollen ihren Schnabel halten. Man muß vielmehr die für das Theaterwesen zuständigen Gottheiten bitten, ihre berechtigten Rachegelüste zurückzustellen, um dieser genialen Truppe Gelegenheit zu geben, ihr Werk fortzusetzen. Allen, die das Theater mit ganzer Seele lieben und ein paar Mark übrig haben, sei der Rat erteilt, sich dieses unvergeßliche Erlebnis anzutun.

Michael Vahlsing

„Das Kaffeehaus“ nächste Vorstellung Di, 4.7., 20 Uhr in der Freilichtbühne an der Zitadelle