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Realismus und Anmut

■ Über das Werk und Leben der englischen Klassikerin Jane Austen

Elke Schmitter

In Jane Austens Emma, einem ihrer konzentriertesten Romane, wird über vier bis sechs Druckseiten (je nach Ausgabe) die folgende Frage diskutiert: Ist es für eine junge Dame schicklich, sich bei ungewissem Wetter erstens ohne Begleitung und zweitens ohne Schirm auf den Weg zu machen, einen Brief beim Postamt abzuholen?

Die Diskussionsgesellschaft, repräsentativ zusammengesetzt aus Mitgliedern der Gentry (die als „oberer Mittelstand“ niederen Adel und landbesitzendes Bürgertum umfaßt), bescheidet diese Frage abschlägig: Es ist nicht erlaubt.

An dieser Szene, kristallin für die Welt Jane Austens, scheiden sich die Geister und die LeserInnen: Wie kann man so etwas, fragen sich die einen, heute überhaupt noch lesen? Und warum den fast 200jährigen Staub von diesen Buchdeckeln blasen, um auf eine Aussage zu stoßen, die affirmativ und bei allem rhetorisch-aufklärerischen Gehabe im erschöpfenden Austausch der Argumente - hoffnungslos antiemanzipatorisch, antimodern und zudem leidenschaftslos ist?

Die Gegnerschaft ist übermächtig. Sie besteht aus Millionen aufgeklärter, moderner, leidenschaftlicher LeserInnen, die mit feuchten Augen und klugen Worten ihre Hörigkeit verteidigen, deren Subjekt so wohlerzogen sich geriert: Jane Austen war eine Meisterin der guten Sitten, eine Verfechterin romantischer Hörigkeit war sie keineswegs.

Jane Austen, geboren 1775 in Hampshire, schrieb sechs Romane und hinterließ bei ihrem Tod 1817 zwei Romanfragmente. Diese Romane spielen innerhalb ihrer Lebenszeit, die immerhin die Französische Revolution umfaßte, die Herrschaft Napoleons und einen blutigen, anhaltenden Krieg, der nach und nach fast ganz Europa, und auch England, in Mitleidenschaft zog. Ihre Romane haben, von einer Ausnahme abgesehen (einer Satire auf den gotischen Schauerroman), alle dasselbe Drehbuch in demselben Lebensraum in demselben sprachlichen Stil: Im Süden Englands kommt eine Dame der Gentry schließlich zu ihrem Auserwählten. Die charakterlichen Entwicklungen und gesellschaftlichen Verwicklungen, die Lady und Gentleman, Mrs. und Mr. zunächst trennen und schließlich zusammenführen, sind von unterschiedlicher Art und Dauer. Es handelt sich um soziale Distanzen von Rang und Vermögen (Stolz und Vorurteil, Überredung), um fatale familiäre Einflüsse (Verstand und Gefühl), charakterliche Defizite und mangelnde Selbsteinsicht der Heldin (Emma) oder Intrige (Mansfield Park). Die Heldin selbst ist selten fleckenlos beschrieben; es gelingt ihr aber, durch Selbsterkenntnis und Reflexion, nicht Kalkül, ihr solides Glück zu erringen. Mit den Helden verhält es sich ebenso. Wenn beide einander versprochen sind, hört die Geschichte auf.

Wo bleibt Napoleon? Er wird am Rande erwähnt.

Wie werden die Kriege abgehandelt? Hauptsächlich mit der Frage, ob die Seeluft dem Teint eines Marineoffiziers zu oder abträglich ist. Sekundär wird erörtert, ob die Marine überhaupt zu der Klasse zu zählen ist, auf die es ankommt ob es schicklich sei oder degoutant, an einen Marineoffizier zu vermieten beispielsweise.

Und die Französische Revolution? Ist in Südengland scheinbar nicht bekannt. Blut und Ideale, das ist eine politische Verschränkung, und Jane Austen war keine politische Denkerin.

Aber worüber hat sie dann nachgedacht? Über die Tugend und über das Glück. Über die Chancen einer Frau, glücklich zu werden in einer Gesellschaft, die sehr komplizierte Muster webte, aus denen es kein Entrinnen gab. Verheiratet mit einem Gecken oder Tölpel, einem Spieler oder Gutsbesitzer: glücklich oder nicht? Allein lebend als Lehrerin oder Gesellschafterin, in dieser unangenehm undefinierten Position in der sozialen Bettritze: glücklich oder nicht? Das Dasein fristen als alte Tante, durchgefüttert und leicht bespottet, aber tugendhaft? Oder heiraten und das Leben auf eine andere Karte setzen, die nicht die eigene ist?

Wenig Möglichkeiten, gar kein Spielraum. Und jeder Schritt will wohl bedacht sein, denn in dieser Gesellschaft gibt es kein Zurück.

Jane Austen hat viele dieser Lebensläufe schriftlich durchgespielt. Sie stellt das Leben einer alleinstehenden jungen Lehrerin auf dem Lande so herzzerreißend hoffnungslos und schäbig dar, daß wir uns für die halbwaisenWatson -Schwestern glühend eine Verheiratung wünschen. Sie beschreibt so genau und zum Steinerweichen das Leben der nur geduldeten, unverheirateten Schwester, daß wir für Anne Eliot, die doch über gewisse Mittel verfügt, bereits dasselbe ersehnen müssen. Belächelt und als alte Jungfer bedauert werden, wenn die Endzwanzigerin mit klammen Fingern den jungen Paaren zum Tanz aufspielt, dabei noch den Lebensmut bewahren, das erscheint als ein heroisches, aber zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wir befürworten also die Heirat - fast gleichgültig schon, mit wem.

Aber dann: Bis ans frühe Lebensende an einen aufgeblasenen, despotischen Snob gefesselt wie Lady Eliot? An einen liebenswerten, gleichwohl zwanghaft umständlichen Hypochonder geraten wie Mrs.Woodhouse, einen, der jedem Menschen das Leben lächelnd zur Mausefalle macht? Wie Lydia Bennet nach Schottland durchbrennen, um dort einen Soldaten zu heiraten - und dann mit dem jungen Eheschwindler in London kleben bleiben und sich meistbietend verhökern lassen? Das alles ist so wenig attraktiv... Doch sind auch die Männer nicht immer zu beneiden. Mr.Bennet plagt sich mit einer stimmgewaltigen, zänkischen und dazu noch dummen Hysterikerin, deren zarte Wangenlinie es ihm vor zwanzig Jahren einmal angetan hat; Tom Musgrave (der es allerdings nicht besser verdient) kann seine Frau nicht daran hindern, sich und ihn fortwährend zu blamieren und das Haus zu einem Vogelkäfig zu verputzen; Mrs.John Dashwood treibt ihrem Gatten die letzten menschlichen Impulse aus.

Kein Zweifel, diese Lebensläufe sind nicht mehr die unseren. Warum also Jane Austen lesen?

Zunächst mal zum Vergnügen. Jane Austen schrieb Komödien, die so souverän und leicht gestaltet sind, daß Amüsement und Spannung sich die Waage halten. Ihre Dialoge zählen zu den lebendigsten der westlichen Literatur überhaupt. Ihre Sottisen sind so fein gestickt, wie es sich für eine junge Dame ihrer Zeit geziemt: sie bluten nicht, aber sie treffen genau - und sie schmerzen empfindlich. Ihre Psychologie ist so präzise und erregend, daß eine wachsende Schar aufgeklärter, emanzipierter Leserinnen, die zwischen Haupt und Nebenwiderspruch geläufig zu unterscheiden weiß, atemlos und infiziert Anne Eliots tappenden Schritten in dem Dunkel folgt, ob Kapitän Wentworth sie noch liebt.

Zum zweiten wegen ihrer Genauigkeit. So wie man das Frankreich der Restauration nach der Comedie Humaine Balzacs wieder errichten könnte, geben Jane Austens Romane ein getreues Abbild des sittlichen Codex ihrer Gesellschaftsschicht um die Wende zum 19.Jahrhundert. Sie ist, wie Charlotte Bronte widerstrebend anerkennt, „von miniaturhafter Genauigkeit und chinesischer Zartheit in ihrer Schilderung“. Geschichte steht uns wesentlich in Sprache zur Verfügung, und aus ihrer Epoche ist uns nicht soviel Glaubwürdiges en detail überliefert, daß wir auf ihren weiblichen Bericht verzichten dürften. - Aber Jane Austens Präzision bezeichnet nur die äußerliche Seite ihrer Authentizität. Inhaltlich (und damit: „drittens“...) wird sie bestätigt durch die Auswahl ihrer Themen, durch die Kulturlandschaften des Innenlebens, die sie erschlossen hat. Die Tatsache, daß in ihrem Werk niemals ein Mann allein oder eine reine Männergesellschaft - beobachtet wird, bildet die großartige Kehrseite der kleinmütigen Regenschirmszene: Jane Austen beschreibt nur, was sie wissen kann. Sie versetzt sich niemals in den Kopf eines Mannes, weil die Politik des Selbst zu ihrer Zeit eine der Geschlechtertrennung war und die gesellschaftliche Übereinkunft jene redselige Psychologie verbot, in der wir heute auf Hochbetten und an Cafehaustischen freimütig über uns Aufschluß geben. So erfindet sie weder männliche Seelenzustände noch Gespräche unter Gentlemen: Sie bleibt bei ihrem Saum.

Und dieser Saum war eng. Im Laufe ihres 41jährigen, äußerlich ereignisarmen Lebens hat sich Jane Austen aus den Grafschaften Südenglands - von kurzen Ausflügen nach London abgesehen - und ihrer Familie nicht fortbewegt. Den Kontinent hat sie nie gesehen. (Und vielleicht nie sehen wollen: Der Kontinent hatte in ihren Kreisen einen schlechten Ruf. Sogar eine Begegnung mit Madame de Stael hat sie, der familiären Schilderung nach, abgelehnt. So werden wir nie erfahren, was eine kapriziöse, libidinös erfahrene, espritreiche und weltläufige Französin und eine gewissenhafte, geistvolle und spöttische englische Jungfrau sich hätten mitteilen können.) Angebahnte Verlobungen sind überliefert, aber schließlich haben weder Ehe noch Witwenstand Jane Austen die Bewegungsfreiheit ermöglicht, die andere Frauen ihres Alters immerhin zu nutzen wußten.

Das Reisen war, wie man weiß, beschwerlich. Unbeobachtete, unkommentierte Korrespondenzen konnten nicht geführt werden; nichts führte heraus aus der Enge der Zimmer. Um so intensiver wurde im engsten Kreis, um den Kamin versammelt, diskutiert, was in der Grafschaft vor sich ging; ein einziger Ball gab für Wochen Gesprächsstoff. Jane Austen hat diesen vertrauten Kreis in ihrer Jugend genutzt, ihre schriftstellerischen Versuche auf Wirkung hin zu erproben (zumeist handelte es sich um Parodistisches wie beispielsweise eine komische Geschichte Englands); erst später, als sie anonym und nicht ohne Erfolg zu veröffentlichen begann, schränkte sie den Kreis der „Mitwisser“ stark ein. Das Leben von Romanen war in weiten Kreisen Indiz für einen schlechten, vergnügungssüchtigen Charakter, und wer gar solche schrieb... Bekannt, und oft mit Rührung und Emphase zitiert, ist die Tatsache, daß die Autorin ihre Manuskripte unter einem Löschblatt verschwinden ließ, wenn jemand den Raum betrat - und wohl nichts gegen das Quietschen der Tür unternahm, weil es sie früh genug warnte: Ganz zweifellos war es Jane Austen nicht möglich, den literarischen Ruhm, den sie sich gegen Ende ihres Lebens erwarb, für erweiterte Lebensräume zu nutzen, gar ihre „Identität“ darin zu reklamieren. Und dennoch ginge man fehl in einer düsteren Beschreibung ihres Lebens. Ihre ökonomischen Möglichkeiten waren nicht groß, gemessen an den Standards gut verheirateter Freundinnen, aber sie ermöglichten ihr ein Leben, das, ungetrübt von häuslichen Verrichtungen, in gesellschaftlichen Begegnungen, langen Spaziergängen, intensiver Lektüre und Korrespondenz sowie der Pflege bedürftiger Familienangehöriger bestand. Klagte sie auch selbst hin und wieder über die unerbittliche Verpflichtung zur Konversation, die in ihrer gesellschaftlichen Sphäre erhoben wurde, so war sie sich doch der Tatsache bewußt, daß eben diese gesellschaftlichen Verpflichtungen das Material ergaben für ihre oft satirischen, immer präzisen Beschreibungen ihrer Gegenwart.

Jane Austen ist der Aufklärung verpflichtet; die Aufklärung ist es ihr. In der Begriffspaarung ihrer Romantitel drückt sich ihr Ethos aus, der Mensch sei ein gesellschaftliches Wesen und habe als solches die Pflicht, sich im Einklang mit der Gesellschaft zu verwirklichen. Das idealisierte weibliche Glück ihrer Zeit, „inmitten ihrer Lieben, die sie vergötterte, ganz erfüllt von ihren Vorzügen und blind gegen ihre Fehler und immerzu friedlich geschäftig“ (Emma), belegt sie mit freundlicher Geringschätzung. Leitstern der inneren wie äußeren Bewegung soll die Vernunft sein, eine Vernunft, in der die Einheit der widerstrebenden Kräfte von Verstand und Gefühl, Selbstverwirklichung und Sittlichkeit, Glücksbedürfnis und Mitleidsethik erhalten ist. Dies beinhaltet die Einsicht, daß diese Einheit nur zu erlangen ist durch das unaufhörliche Streben des selbstbewußten Individuums. So ist das Glück die Summe aller Anstrengung, weder Zufall noch Geschenk.

Das klingt streng, und so ist es, bei aller Güte den mit weniger Vernunft begabten Lebewesen gegenüber, auch gemeint. Mit den Strudeln von Leidenschaft, Schuld und Verstrickung der romantischen Pfarrerstöchter Bronte hat die Pfarrerstochter Jane Austen nichts zu schaffen. Ihr Humor, der nicht ohne Schärfe ist, steht der dramatischen Egozentrik entgegen; ihr gepflegter Ernst, der nur einen Anflug von Tragik gestattet, ist jedem Verhängnis abhold. Als echt klassizistische Dichterin verdient für sie nicht die exzentrische Individualität, die dunkle Seelenkrankheit schriftstellerische Aufmerksamkeit, sondern der didaktischen Analyse und Beschreibung wert sind die Verkörperung des Common sense, die Einheit aller Kräfte und die selbstbewußte, glückliche Normalität. Und doch ist der Genuß bei der Lektüre ihrer Werke nicht vermeintlich affirmativer Abwesenheit menschlicher und sozialer Tiefen zu schulden, noch dem sicheren Happy-End: Ihr Realismus ist ohnegleichen, ihre Menschenliebe ohne Sentimentalität, ihre Sprache ein Fest: Enge Räume, weite Gedanken.

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