: Ein Plan für Europas Häusle-Bauer
Wenn Kreml-Chef Gorbatschow heute vor dem Straßburger Europarat über das gemeinsame Haus spricht, sitzen erstmals Ostblock-Parlamentarier im Plenum - dafür fehlen die EG-Parlamentarier ■ Aus Straßburg Thomas Scheuer
Ein internationaler Architektenwettbewerb ist eigentlich längst überfällig: So hemmungslos wird am Wunschbild vom gemeinsamen europäischen Haus (kurz: GEH) verbal-gepinselt, daß man allmählich gern mal etwas Genaueres über die Konstruktion dieser blockübergreifenden Hütte erfahren würde. Vielleicht sind wir heute abend schlauer: Denn heute will Michail Gorbatschow, der große Transformator aus Moskau, dem die Haus-Metapher ihren wachsenden Verkehrswert verdankt, seinen GEH-Entwurf erläutern.
Nicht auf einer nationalen Bühne in Bonn, Moskau oder Paris, sondern - wie es dem Thema gebührt - auf den Brettern des Straßburger Palais de l'Europe, dem Sitz des Europarates. Genauer gesagt: vor dessen parlamentarischer Versammlung. Die hat das unverdiente Pech, sogar von gewöhnlich einigermaßen unterrichteten Medien ständig mit dem Europäischen Parlament der EG verwechselt zu werden. Dabei macht der Wanderzirkus der umtriebigen EG -Parlamentarier lediglich einmal monatlich als Untermieter im Straßburger Euro-Silo zwecks Plenarsitzung Station.
Der Straßburger Europarat, dem nach dem kürzlichen Beitritt San Marinos und Finnlands insgesamt 23 westeuropäische Staaten angehören, „wirkt“ im politischen Schatten der Wirtschaftsmacht EG in erster Linie durch gemeinsame Konventionen. Die bekannteste ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Seine parlamentarische Versammlung zählt 177 Abgeordnete, die sich aus den 23 nationalen Parlamenten rekrutieren. Dagegen läßt die Europäische Gemeinschaft die 518 Abgeordneten ihres Europäischen Parlamentes (EP) alle fünf Jahre direkt wählen.
Bei Gorbatschows Lektion über das GEH hätten eigentlich die Abgeordneten beider Versammlungen gemeinsam die Plenarbänke drücken sollen: Der Europarat, der den Sowjet-Chef bereits im April 1988 förmlich eingeladen hatte, schlug nobel eine gemeinsame Sitzung vor. Doch die Volksvertreter der Zwölfer -Combo mochten nicht. Einige, so wird hinter den Kulissen gemunkelt, sind sauer, weil sie den profilierungsträchtigen Gorbi-Auftritt gerne auf dem eigenen Konto verbucht hätten.
Vorgeschoben wurden, ganz in der Tradition der Eurokratie, juristische Fisimatenten: Die 518 alten EP-Deputierten seien zwar formal noch im Amt, könnten aber zum Gorbi-Auftritt nicht mehr geschickt werden, da die neuen seit dem 18. Juni schon gewählt sind. Die können sich aber ihrerseits auch noch nicht präsentieren, da sie sich erst am 25. Juli konstituieren. Ob trotz konstitutioneller Aus-Zeit das EP heute wenigstens durch eine Abordnung vertreten sein wird, war in Straßburg gestern nicht zuverlässig zu klären. Man „gehe davon aus“, hieß es beim Europarat.
Bleibt die paradoxe Tatsache, daß die beiden parlamentarischen Zirkel Westeuropas sich ausgerechnet dann nicht finden, wenn Michail Gorbatschow übers gemeinsame Haus doziert. Unglücklich darüber sind Moskaus Protokoll-Gurus keineswegs. Sie ziehen den Europarat als Forum eh der EG vor. Lange Zeit wurde die Existenz der EG von der Sowjet -Diplomatie schlicht ignoriert. Der Europarat besteht außerdem schon länger und repräsentiert fast doppelt so viele Staaten, das Dutzend der EG eingeschlossen.
Demnächst vielleicht noch mehr: Neben den 177 westeuropäischen Abgeordneten (plus 177 Stellvertreter, damit der Schuppen voll wird) werden heute in Straßburg erstmals Abgeordnete aus dem Ostblock sitzen: Parlamentariern aus der Sowjetunion, Polen und Ungarn wurde vom Europarat der Status von „Spezialgästen“ verpaßt, damit sie gemeinsam mit ihren westeuropäischen Kollegen im Plenarsaal Platz nehmen können. Eine Premiere, die Zeichen setzen könnte. Schon werden unter den Beamten des Europarates erste Wetten abgeschlossen, wann das erste Ostblockland in Straßburg einziehen wird. Getippt wird auf Ungarn. „Ein paar Menschenrechtsfragen“, so ein Beamter, „müssen da natürlich noch geklärt werden.“
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