piwik no script img

Bulgarien führt Arbeitszwang ein

Viele der über 100.000 geflohenen TürkInnen arbeiteten in der Landwirtschaft und Industrie / Jetzt sollen BulgarInnen dort verpflichtet werden / Berichte über Stillegung ganzer Fabriken / 200.000 weitere Flüchtlinge in der Türkei erwartet / Hohe Arbeitslosigkeit in der Türkei  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der Massenexodus von bisher mehr als 100.000 TürkInnen hat die bulgarische Regierung zu drakonischen Maßnahmen veranlaßt: Weil ein Großteil der 1,5 Millionen Menschen zählenden türkischen Minderheit in der Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie und Bauwirtschaft arbeitet, beschloß der Staatsrat am Mittwoch einen Arbeitszwang für BulgarInnen. Unter Strafandrohung können Mehrarbeit und Arbeitsplatzwechsel verfügt werden, um die Schäden in der bulgarischen Wirtschaft aufzufangen. Viele türkische Flüchtlinge haben unterdessen von Stillegungen ganzer Fabriken berichtet. Die Aussagen werden mittlerweile von bulgarischer Seite bestätigt. So gab die Parteizeitung 'Rabotnichesko Delo‘ an, daß in der Tabakfabrik von Schuman 59 Prozent der ArbeiterInnen „ihren Arbeitsplatz verlassen“ haben. Im agro-industriellen Bereich sollen es insgesamt 49 Prozent sein.

Was so euphemistisch „Verlassen des Arbeitsplatzes“ genannt wird, ist die Massenflucht der türkischen Minderheit infolge der seit 1984 forcierten Assimilierungspolitik Bulgariens. Allein in den vergangenen Wochen passierten über 113.000 Menschen mit Touristenpässen, nur mit den nötigsten Habseligkeiten versehen, die bulgarisch-türkische Grenze. Nach Angaben des bulgarischen Außenministers Tschandar Mladenov sollen weiteren 200.000 „moslemischen Bulgaren“ (so die staatliche Umschreibung der türkischen Minderheit) Pässe ausgestellt werden.

Diese Zahlen wurden in etwa vom türkischen Ministerpräsidenten Turgut Özal bestätigt. Rund 20.000 Flüchtlinge lebten in Lagern nahe der türkischen Städte Edirne und Kirklareli, sagte Özal am Mittwoch vor der Presse. „Wenn nötig, nehmen wir 1,5 Millionen Menschen auf“, tönte Özal auf seinen Kundgebungsfeldzügen gegen die Bulgaren weiter. „Wir werden die bulgarische Regierung zur Strecke bringen“, verkündete er auf einer Versammlung in Samsun. „Wir produzieren jeden Monat zwei F-16-Bomber. Unsere Kanonen und Panzer bauen wir selbst. Auch U-Boote und Radarsysteme stellen wir künftig in eigener Regie her. Dieses Land ist auf niemanden angewiesen.“

Doch während in Bulgarien nach der türkischen Massenflucht Arbeitskräftemangel herrscht, hat die Özalsche Liberalisierungspolitik in der Wirtschaft zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der Türkei geführt. Seit dem Militärputsch 1980 und dem Regierungsantritt Özals 1983 sind die Reallöhne ständig gesunken, gehört der Kampf um den Arbeitsplatz zum bitteren Alltag für viele.

In den vergangenen Tagen berichtete die türkische Presse verstärkt über Massenentlassungen in Betrieben. Die alten Belegschaften würden entlassen, um die billigen bulgarischen Migranten einzustellen. Insbesondere sind Arbeiter im Zentrum der Automobil- und Textilindustrie Bursa von Entlassungen bedroht. 125 Arbeiter wurden in der Textilfabrik Yildiz entlassen. „Bei Neueinstellungen werden wir natürlich unsere Brüder aus Bulgarien berücksichtigen“, so der Personalchef gegenüber der Tageszeitung 'Cumhuriyet‘. Entlassene Arbeiter in der Zeitschrift '2000'e Dogru‘: „Sollen wir jetzt bei den Bulgaren um Asyl nachsuchen?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen