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Ohne Vorhang

■ Jurij Jeromin und das Moskauer Taganka-Theater zu Gast auf den Junifestwochen in Zürich

Marie-Luise Bott

Die diesjährigen Züricher Junifestwochen „Ein Fenster zu Europa“ waren der sowjetrussischen Moderne gewidmet. Den Abschluß der Theatergastspiele aus Moskau bildete eine Aufführung des Taganka-Theaters unter der Leitung von Jurij Ljubimow.

In diesem jahr feiert das Theater sein 25jähriges Jubiläum und damit vor allem die Arbeit des heute 71jährigen Jurij Ljubimow. Er eröffnete es 1965 mit Brechts Gutem Menschen von Sezuan und war die ganze Breschnew-Ära hindurch hartnäckig bemüht, die Freiheit der künstlerischen Aussage zu behaupten, wenn nicht hart zu vergrößern. 1983 setzte die Zensurbehörde Ljubimows Inszenierung von Puschkins Drama Boris Godunow nach einer ersten Aufführung ab. Sie kam, wie so viele andere Arbeiten Ljubimows, nicht auf die Bühne. Der alte Kämpfer Ljubimow hatte genug. Er führte Gastregie in London, gab dort ein freimütiges Interview in der 'Times‘ und wurde 1984 ausgebürgert. Seine Moskauer Freunde waren bitter enttäuscht, als zu den Unterzeichnern eines von Exilrussen verfaßten offenen Briefs, der die Ernsthaftigkeit von Gorbatschows Reformbemühungen bezweifelte, auch Ljubimow gehörte. Dann aber geschah das Unerwartete: Der Schauspieler und Regisseur Nikolaj Gubenko, der das Taganka-Ensemble inzwischen vertrat, lud Ljubimow zur Wiederaufnahme der Godunow-Proben nach Moskau ein, und Ljubimow erhielt ein Visum. Im September 1988 hatte Boris Godunow in Moskau Premiere. Jetzt war die Inszenierung in Zürich zu sehen.

Die Bühne ist fast leer. Den Hintergrund bildet eine hohe, dunkle Bretterwand. Darin öffnen sich Fenster und Türen überraschend für Auftritte. Rechts und links im Vordergrund steht je ein Stuhl. Das ist alles. Ljubimow macht kein Ausstattungstheater. Auch die fünf Jahre Arbeit im Ausland haben ihn nicht dazu verführen können. Die Bühne bleibt frei für den Menschen und seine Imagination, für lebende, vor Bewegung berstende Bilder der Geschichte. Puschkins Versdrama erzählt vom Kampf um die Macht. Sein groteskes Auf und Ab mißt die ganze Bühnenbreite zwischen Tragödie und Komödie aus und kennt eben (nach bester Taganka-Tradition) keinen Vorhang zwischen Zuschauerraum und Bühne.

Das Volk tritt auf und schließt sich zu einem magischen Kreis zusammen. Aus diesem Chor heraus lösen sich zwei Gestalten. Die Fürsten beraten über das Geschick am russischen Hof: Boris Godunow wird sich zum Zar krönen lassen und sein Geschlecht an die Macht bringen, nachdem er den rechtmäßigen Thronfolger Dimitrij noch als Kind ermordern ließ. Viele kleine Spotlights, von der Rampe her auf die Schauspieler gerichtet, werfen deren vergrößerte, gespenstisch verdoppelte Schatten an die Wände. So sind gleich zu Beginn Eisensteins FilmIwan der Schreckliche und seine Stalin-Assoziationen im Hintergrund präsent.

Aus der Mitte des Chores heraus schleudert der neue Zar Boris das Insignum seiner Macht: Der Herrscherstab mit dem goldenen Knauf und dem tödlich spitzen Ende fährt krachend in den Holzboden. Jedesmal fällt das Volk vor Entsetzen auf die Knie. Der Zar erteilt dem Volk das Wort, und der Zar schneidet es ihm mit einer kurzen, herrischen Geste auch wieder ab. Ununterbrochen aber bleibt das Volk bei Ljubimow auf der Bühne. Damit ist es mehr als nur eines, das Geschichte ohnmächtig erleidet. Es wird zum Zeugen und Mitwisser seiner Geschichte.

Diese gleichzeitige Präsenz aller Figuren auf der Bühne stellt neue Bezüge her und erzeugt eine Spannung, die mit den unglaublich phantasievollen Sznenübergängen noch wächst. Wenn der Mönch Pimen etwa in klösterlicher Stille an seiner Chronik der russischeen Geschichte schreibt und sie einen „wahren Bericht“ nennt, sieht ihm der Zar plötzlich über die Schulter und fragt drohend: „Einen wahren Bericht?!“

Es müßte nun etwas über die großartige schauspielerische Leistung von Nikolaj Gubenko als Boris gesagt werden, der mit der Auflehnung gegen die Last der Macht und das Kreuz des Gewissens einen ganzen Menschen darstellt und keinen Popanz der Macht; oder über Alla Demidowa, die in einer atembraubenden Groteske die machtgierige polnische Königstochter Marina vorführt. Doch eben weil Ljubimows Inszenierung Ensembletheater ist, fällt das hier schwer. Die beeindruckendste Ensembleleistung dieses Abends aber sind die Volkslieder und -tänze, die in allen Schattierungen, vom Ausbruch vitaler Sinnenfreude bis zur Totenklage, die Szenen begleiten (Musik: Dimitrij Petrowskij).

Ljubimow hatte in Mailand die Oper Borius Godunow von Mussorgskij inszeniert. Diese Musiktheatererfahrung brachte er zu den Endproben des Dramas nach Moskau mit. Er hat sie jedoch umgesetzt in etwas Eigenes. Entstanden ist ein Volkstheater von unbeschreiblicher Schönheit: ohne jede falsche Folklore, mit allem Ernst und aller Größe der alten Lieder und Rituale.

Aber Ljubimow hat auch die Verführbarkeit und den Wankelmut dieses Volkes auschoreographiert. Schließlich läuft es zum neuen Usurpator, dem falschen Dimitrij, über. Es war Zeuge des neuen Mordens, und dennoch schweigt es. Nikolaj kehrt im modernen Anzug aus dem Saal auf die Bühne zurück und fragt das Publikum: „Und ihr? Warum schweigt ihr?“

Nicht die Abgeklärtheit eines „Altersstils“, sondern ein Gefühl von Befreiung war auf einemmal zu spüren.

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