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„Wie einfältig, auf Frieden zu hoffen“

Aufruf des chinesischen Studentenführers Wu Erkaixi / Wu Erkaixi steht an erster Stelle einer Fahndungsliste mit den Namen von 21 studentischen Aktivisten / Nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung hat er in der Pariser US-Botschaft um politisches Asyl in den USA nachgesucht  ■ D O K U M E N T A T I O N

An alle Landsleute, die Freiheit und Demokratie lieben, an alle Chinesen. Ich will euch mitteilten, was in Peking auf dem Tiananmen passiert ist, obwohl ich weiß, daß viele unserer Freunde dies bereits wissen. Einfach ausgedrückt, seit dem 4.Juni, dem dunkelsten Tag der Republik, geht es mit China bergab. Auf dem Tiananmen zeigten die reaktionären Kriegsherren, die reaktionäre Regierung und die von Li Peng und Yang Shangkun angeführten - und von Deng Xiaoping aus dem Hintergrund manipulierten - faschistischen Truppen offen ihr häßliches Antlitz. Sie eröffneten das Feuer auf Zehntausende friedlich demonstrierender Studenten. Ich kann euch natürlich keine genauen Zahlen über die getöteten Menschen angeben, ich kann euch aber sagen, daß in dieser Nacht auf dem Tiananmen Tausende getötet worden sind. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich behaupte, daß im Verlauf der Unterdrückung der Bewegung in ganz Peking Zehntausende starben.

Ich war am 4.Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo ich mit meinen eigenen Augen sah, daß viele meiner Genossinnen, Genossen und Landsleute durch die Gewehre und Schlagstöcke der bestialischen faschistischen Truppen, die ihr Gewissen und ihre Menschlichkeit verloren hatten, getötet oder krankenhausreif geschlagen wurden. Ich sah ganz genau, wie sie am Kopf und am Körper getroffen wurden, wie das Blut aus ihren Leibern sickerte. Wir waren friedliche Demonstranten, wir blieben sogar während des Massakers friedlich.

Wir waren drei Leute in einer Ambulanz, außer mir noch ein getöteter Student und ein Soldat, der auf dem Platz von den Kugeln seiner eigenen Leute getroffen worden war. Er wurde zwar ins Krankenhaus gebracht, jedoch später durch einen Gewehrschuß hingerichtet.

Wie einfältig waren wir doch, auf den Frieden zu hoffen. Wir hatten die Brutalität der Faschisten nicht vorausgesehen. Am Anfang hatten wir nicht begriffen, wie verabscheuungswürdig diese Bestien sein können. Auf dem Tiananmen wurden viele meiner Kommilitonen von Panzern überrollt und zerquetscht. Ihre Leichen wurden mit Schaufeln entfernt. Angestellte der Pekinger Universität beobachteten, wie die Soldaten die Leichen in Plastiksäcke legten, sie übereinander stapelten und dann verbrannten.

Ein Student der Quinghua-Universität berichtete mir, daß drei seiner Kommilitonen sich Hand in Hand einem Panzer in den Weg stellten, um ihn aufzuhalten. Sie wurden durch Gewehrschüsse getötet, vom Panzer überrollt und zermalmt.

Die wahren Konterrevolutionäre, die wirklich rebellierenden Verbrecher sind Li Peng, Deng Xiaoping und Yang Shangkun. Sie sind ein Rudel Wölfe in menschlicher Verkleidung. Sie haben die Regierungs- und Militärgewalt widerrechtlich an sich gerissen, sie sind der gemeinsame Feind des Volkes und sie werden von der Geschichte gerichtet werden.

Der Aufenthaltsort vieler meiner Freunde und Kommilitonen ist unbekannt. Es ist nicht sicher, ob sie noch am Leben sind, denn die Faschisten sind immer noch mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel dabei, zu verhaften und zu töten. Sie wollen die demokratische Bewegung an der Wurzel ausrotten. Hat nicht Li Peng gesagt, daß ein Wiedererstarken unserer Bewegung unter allen Umständen verhindert werden muß? Sie sind ohne Skrupel, verabscheuungswürdig und doppelzüngig. Viele meiner Freunde haben die Video -Aufzeichnungen gesehen, die sie heimlich von uns aufgenommen haben und in denen wir beschuldigt wurden, üppige und ausschweifende Gelage abzuhalten. Tatsache ist, daß wir zusammen mit einigen Studenten aus Hong Kong in einem Pekinger Hotel gegessen haben. Wenn dies ein ausschweifendes Gelage gewesen sein soll, muß ich diesen Faschisten sagen, daß sie Tag für Tag öffentliche Mittel benutzen, um staatliche Festlichkeiten, Begrüßungsbanketts und andere Empfänge abzuhalten. Sie bereichern sich, und das Volk bezahlt mit seinem Blut und seinem Schweiß. Wenn ich ausschweifend getafelt haben soll, was tun sie dann? Diese Regierung ist sogar so niederträchtig, daß sie ein Videoband im Fernsehen zeigt, auf dem ein Student gerade beim Essen ist und deswegen als Konterrevolutionär beschuldigt wird.

Diese Regierung wird ganz sicher scheitern, und das Volk wird seine politischen Rechte zurückerobern. Dies kann vielleicht schon in einem halben Jahr so weit sein, länger als drei Jahre wird es jedoch sicher nicht dauern.

Ich weiß, daß viele meiner Freunde um uns und auch um mich besorgt sind. Seit dem Gemetzel ist ein halber Monat vergangen. Gott sei Dank bin ich zur Zeit noch in Sicherheit. Wir haben eine schwere Zerreißprobe hinter uns, aber sind noch am Leben. Wir haben viel mehr Glück gehabt als unsere Kommilitonen, die für immer auf dem Tiananmem zurückgeblieben sind. Ewigen Frieden für ihre heldenhaften Seelen.

Wir, die wir immer noch am Leben sind, haben keinen Anspruch mehr auf unser individuelles Leben. Unser Leben umfaßt ebenfalls das unserer Kommilitonen, die ihr eigenes Lebenfür unsere Freiheit, für unsere Demokratie, für unser wunderbares Vaterland und für die Zukunft unserer Heimat geopfert haben. Ihr Leben ist auf immer mit unserem verbunden. Wir müssen uns erheben und bis zum Ende weiterkämpfen. Politiker wie Li Peng, Deng Xiaoping und Yang Shangkun können das Rad der Geschichte nicht aufhalten. Sie mögen vorläufig ihr Ziel erreicht haben, indem sie die Soldaten getäuscht haben. Aber es ist gut zu wissen, daß die Geschichte durch das Volk geschrieben und vom Volk vollzogen wird.

Wir haben einen großen Sieg errungen. Für alle, die China über alles lieben, die sich von ganzem Herzen nach Freiheit und nach Demokratie sehnen, müssen wir bereit sein zu kämpfen, das sind wir unseren Märtyrern schuldig.

Wir sind den Mitstreitern unserer demokratischen Bewegung und uns selbst verpflichtet. Mehr noch, wir sind den Tausenden von Landsleuten, die außerhalb von China leben, und den zukünftigen Generationen verpflichtet. Wir tragen eine schwere Verantwortung. Deshalb müssen wir erhobenen Hauptes bis zum Ende weiterkämpfen. Wir müssen standhaft sein, sonst gibt es weder für uns noch für China eine Zukunft.

Wir haben versucht, dieses gestrandete Schiff wieder klarzumachen. Im Augenblick stoßen immer mehr Leute zu uns und verstärken unsere Reihen: Wir sind sicher, daß das gestrandete Schiff wieder das offene Meer erreichen wird. Mögen alle Märtyrer, die ihr Leben geopfert haben, ewig in uns weiterleben.

Landsleute, Genossen, Kämpfer für die demokratische Bewegung, ich bin Wu Erkaixi. Das Gemetzel ist vorüber, aber unser Vaterland befindet sich vorläufig in einer schweren Krise. Trotzdem sind wir überzeugt, daß unsere Bewegung siegreich sein wird und daß unsere Forderungen erfüllt werden. Wir werden zu einer noch viel bedeutsameren demokratischen Bewegung anwachsen. Wir werden Li Peng und Yang Shangkun besiegen, dies gilt auch für Deng Xiaoping. Unsere studentische Bewegung hat zum Ziel, die Demokratie weiterzuentwickeln und China zu stärken. Aber niemand will den Aufruhr, wir wollen nur dieses reaktionäre Regime abschaffen. Es ist nicht unser Hauptanliegen, Li Peng zu stürzen. Unser Ziel ist es, alle Kräfte zu vereinen, die sich wirklich für das Volk einsetzen.

Kurz- und mittelfristig kämpfen wir für die Aufhebung der Pressezensur und darum, dem Volk die demokratischen Ideen näherzubringen. Langfristig wollen wir in China ein rechtsstaatliches und ausgewogenes politisches System errichten. Das ist unser Anliegen.

Der (hier leicht gekürzte) Aufruf ist vergangene Woche im US-Fernsehsender NBC ausgestrahlt worden.

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