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Menschenrecht Totalverweigerung

■ DDR-Grenzschuß auf Deserteure ist erlaubt, BRD-Totalverweigerer kommen in den Knast

Erneut verkündete der Staatsratsvorsitzende der DDR letzte Woche zum Antrittsbesuch von Kanzleramtsminister Seiters, ein Schießbefehl bestehe an der DDR-Grenze nicht, ausgenommen bei Deserteuren, auf die geschossen werde. Offenbar beruhigte die mehrfach gegebene amtliche Auskunft die auf Einhaltung der Menschenrechte besorgte Weltöffentlichkeit, vorweg das besonders besorgte bundesdeutsche Gewissen. Wenn nicht auf Menschen geschossen wird, sondern nur auf Deserteure, ist alles halb so schlimm.

Schließlich erklären bundesdeutsche Gerichte die Exekution von Wehrmachtsdeserteuren für Rechtens. Schließlich dürfen Bundeswehrtotalverweigerer mehrfach bestraft werden und landen im Gefängnis. In der Kriminalisierung und Verfolgung von Deserteuren und Totalverweigerern besteht gesamtdeutsche Einigkeit und Unfreiheit. Sie zu erhalten und zu erweitern will der BRD-Bundespräsident, ein Wehrmachtshauptmann und Leningradkämpfer a.D., gar das Grundgesetz ändern. Zu den erlaubten Todesschüssen auf heutige Deserteure schweigt der DDR-Verteidigungsminister, ein ehemaliger Wehrmachtsdeserteur, der damit seine damalige Fahnenflucht widerruft. Somit wird die gesamtdeutsche Blutlinie wiederhergestellt: Soldaten haben zu gehorchen. Wer sich verweigert, hat die Folgen zu tragen. Da helfen keine Volksarmee-Bauarbeiterbataillone, da hilft kein gnädig erlaubter Zivildienst als bundesdeutsches Ersatzprogramm.

200 Jahre nach Erklärung der Menschenrechte ist als deren längst fällige Komplettierung das allgemeine Menschenrecht auf Totalverweigerung jeglichen Militär- und Ersatzdienstes zu fordern und zu erkämpfen: national und international.

Das heißt: Kein Staat besitzt das Recht, auf Deserteure zu schießen. Kein Staat hat das Recht, Verweigerer zu bestrafen oder irgendwelche Ersatzdienste zu verlangen. Kein Staat besitzt das Recht, aus Menschen Soldaten zu machen. Es ist das natürliche Recht eines jeden Menschen, Militär- oder Ersatzdienste zu verweigern oder sie - nach besserer Einsicht - jederzeit zu verlassen. Kriminell ist nicht die Verweigerung. Kriminell ist deren Verbot und Verfolgung.

Gerhard Zwerenz, Schriftsteller, Schmitten

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