Ein Tiefstapler im Aufwind

■ Greg LeMond holt sich im Bergzeitfahren das Gelbe Trikot der Tour de France zurück

Berlin (taz) - Die ganze Zeit war er vorn dabeigewesen, sechs Tage lang sogar im Gelben Trikot gefahren, so richtig ernstgenommen hatte ihn dennoch niemand: Greg LeMond, den schrotkugelgespickten 28jährigen Amerikaner, der nach seinem Jagdunfall vor zwei Jahren zum ersten Mal wieder an der Tour de France teilnahm, die er 1986 als Kronprinz des großen Bretonen Bernard Hinault gewonnen hatte. Hauptfavorit für alle Experten, ob sie nun Merckx, Hinault oder Ocana hießen, war zunächst Laurent Fignon (28) gewesen, der bärenstarke Sieger des Giro d'Italia '89 und Tourgewinner 83/84, dann schwenkten sie angesichts der phänomenalen Aufholjagd Pedro Delgados in den Pyrenäen auf den 29jährigen Spanier um, der sich vom letzten Platz am ersten Tag der Tour plötzlich auf den vierten Platz vorgeschoben hatte.

LeMond, der den Giro mit weichen Knien bestritten hatte und selbst als sein größter Tiefstapler auftrat, war trotz des fulminanten Sieges beim schweren Zeitfahren von Dinard nach Rennes auf keiner Rechnung zu finden. Spätestens in den Pyrenäen wäre er die Führung wieder los, tat er kund, was ja auch tatsächlich stimmte. Allerdings ließ er Fignon nur um sieben Sekunden an sich vorbeiziehen und behauptete souverän den zweiten Platz, den er sich auch auf den folgenden Flachetappen nicht streitigmachen ließ. Im beruhigenden Gefühl, schon mehr geleistet zu haben als von ihm erwartet worden war, fuhr er taktisch geschickt im Feld mit, ließ sich auf keinerlei Eskapaden ein, kümmerte sich nicht um die Schimpftiraden Fignons, der ihm Passivität vorwarf, sparte Kräfte, wo es nur ging, und wartete geduldig auf seine nächste große Stunde.

Die kam am Sonntag beim 39 Kilometer langen Bergzeitfahren von Gap nach Orcieres-Merlette, bei dem eigentlich Delgados Großangriff auf Fignon erwartet wurde. Doch während der Spanier nicht restlos zufrieden war, obwohl er fast eine Minute auf den bezopften Franzosen gutmachte, sorgte einmal mehr Greg LeMond für Verblüffung. Er wurde mit nur acht Sekunden Rückstand auf Delgado und 57 Sekunden auf den Sieger Steven Rooks (Niederlande) Fünfter und durfte darob erneut ins Gelbe Trikot schlüpfen. In der Gesamtwertung beträgt sein Vorsprung jetzt 40 Sekunden auf Fignon, 2:17 Minuten auf Mottet und 2:48 auf Delgado.

Nach dem Triumph übte sich LeMond weiter in Tiefstapelei: „Ich hätte nie geglaubt, daß ich in diesem Bergzeitfahren das Gelbe Trikot zurückholen würde. Es wird jetzt aber sehr, sehr schwer, es zu verteidigen.“ Womit er unzweifelhaft recht hat. Nach dem gestrigen Ruhetag stehen heute und morgen in den Alpen die beiden schwersten Etappen dieser Tour auf dem Programm. Heute müssen die Fahrer auf dem Weg von Gap nach Brian?on mit dem Izoard (2.360 Meter) einen Berg der Ehrenkategorie überqueren, morgen warten dann auf der „Königsetappe“ mit dem Galibier (2.640), dem Croix-de -Fer (2.067) und dem abschließenden Anstieg nach L'Alpe d'Huez gleich drei Erhebungen dieses Kalibers auf die Radler.

Vor zwei Jahren verlor Pedro Delgado auf dieser Etappe die Tour gegen den Iren Stephen Roche, der anschließend ausgiebig am Sauerstoffgerät saugen mußte, in diesem Jahr kann er sie nur hier noch gewinnen. LeMond, auch für Delgado „die größte Überraschung“, und Fignon, der gern die Rolle des lachenden Dritten übernehmen würde, täten gut daran, sein Hinterrad nicht aus den Augen zu lassen.

Matti