: Palais Mitterrand
■ Noch einmal zur „Volksoper“ für Paris
Mit politischen Symbolen von kulturellem Gewicht wird in Frankreich seit Jahrhunderten nicht gespart. Sie stiften den steinernen und ehernen Rahmen um die lebenslustigeren Zonen der Hauptstadt. In Paris ist man sich der Bedeutung der Symbole auch sehr wohl bewußt. „Die Zeichen“, ist in einem Dekret zu lesen, „üben auf das Volk großen Einfluß aus, den alle Gesetzesgeber mit Erfolg genutzt haben und den auch wir nicht vernachlässigen dürfen. Man denke nur daran, wieviel Sorgfalt die katholische Kirche darauf verwandte, ständig die Embleme des religiösen Glaubens vor Augen zu führen.“
Das erste Symbol, das sich bei der Annäherung an den Bicentenaire nicht übersehen ließ, war eine gewaltige Zigarre. Allgegenwärtig schwebte die „Prince of Wales“, das anachronistisch anmutende Luftschiff, über den Boulevards, den Plätzen und dem Gassengewirr. Der Zeppelin freilich flog weder für einen Getränkehersteller noch für das zentrale Staatsspektakel Reklame - und schon gar nicht war er als Leihgabe für das Museum des 19.Jahrhunderts gedacht. Das leise Luftgefährt transportierte rund um die Uhr zwei Spezialkameras, mit denen sich die Autonummern registrieren und Paßfotos von den Passanten anfertigen ließen; per Funk zu den Bodenstationen übermittelt, wurden die Daten von Computern ausgewertet. Big Brother war in ein historisches Kostüm geschlüpft.
Paris dürfte nicht zu einem Museum des 19.Jahrhunderts werden, hatte Francois Mitterrand 1981 nach seiner Wahl zum Präsidenten mit Nachdruck erklärt. Dieser Epoche wurde mit der ziemlich skrupellosen Umrüstung des Bahnhofs am Quai d'Orsay ein neuer musealer Ort zugewiesen; in erster Linie aber wurden neue Zeichen gesetzt - mit den Neubauten des Wissenschaftsmuseums, des arabischen Instituts, dem auf Betonstelzen gesetzten Finanzministerium, der so heftig umstrittenen Pyramide aus Glas und Stahl im Hof des Louvre, dem mehr als hundert Meter hohen Kubus in der westlichen Vorstadt La Defense, der als „Großer Bogen“ die Perspektive des Arc de Triomphe kontrapunktiert und der architektonischen Achse in Paris nicht nur einen Schlußpunkt setzt, sondern zugleich ein Signal für das 21.Jahrhundert.
Nicht anders ist das architektonische Vorhaben am anderen Ende dieser Achse zu verstehen: Der Neubau des Opernhauses an der Place de la Bastille war als weiteres Symbol des „demokratischen Absolutismus in Frankreich“ (Francois Furet) konzipiert: monumental in den Dimensionen und in der schroffen Kontrastierung zur Gründerzeit-Architektur der Umgebung, demokratisch in der Funktion als „Volksoper“. Wie von Kykloden aus dem Fertigbaukasten der Betonindustrie gefügt, erhebt sich die neue Bastille-Oper hinter der Siegessäule für die Revolution von 1830. Dem Platz zu ist das Riesenwerk jedoch abgerundet, zeigt etwa sechs Meter über dem Trottoir einen Umgang - wie eine Reling. Die Fassaden-Komposition aus weißem Stein, Glas, Metall und runden Stützen erinnert tatsächlich an einen Luxusdampfer, der haarscharf neben dem Nobel-Freßlokal „A La Tour d'Argent“ auf Grund gelaufen ist. Das Tor aus dunklen Steinen möchte die Öffnung zur Stadt hin betonen - doch es wirkt wie die Heckklappe einer Autofähre oder wie eine aus der Form geratene Guillotine, die den treppauf eilenden Operngängern die Macht der Geschichte in Erinnerung ruft. Dieser Durchgang behält, auch als architektonisches Gegenstück zum quaderförmigen Bogen von La Defense, ein Moment des Bedrohlichen, das wohl nicht zufällig über allen Eingängen zu demokratischen Gefilden lastet.
Innen riecht es noch ein wenig wie in einem fabrikneuen Citroen. Hinter ausgedehnten lichten Foyers der strikt funktionale Zuschauerraum: daß er auf 2.700 Sesseln rund 800 Zuschauern mehr Platz bietet als das Palais Garnier, in dem die Große Oper die letzten 114 Jahre zu Hause war, ist ihm nicht anzumerken. In der Bastille-Oper, wenn man nicht zu weit seitwärts sitzt, läßt es sich besser sehen und - dem ersten Eindruck nach - auch besser hören. Im Personal-Trakt geht es zu wie im Kaufhaus: Rolltreppen sorgen für den mühelosen Transport der Sänger, Orchesterleute, Bühnenarbeiter und Techniker von einer der acht Ebenen zur anderen.
Die Technik ist Trumpf: Kein anderes Opernhaus der Welt kann so viele Bühnenbilder gleichzeitig bereithalten und auch aufwendigste Ausstattungen in so kurzer Zeit wechseln, nirgendwo anders sind der Bühnenraum und seine Umgebung so flexibel, gestatten die unterschiedlichsten Raumgestaltungen. Welche Tiefe die Bühne haben kann, demonstrierte Robert Wilson bei der Inaugurations-Zeremonie. Zu den Klängen der (von Ambroise Thomas instrumentierten) Marseillaise wurde ein Vorhang nach dem anderen weggezogen - und der Blick in eine schier unendliche Theaterwelt tat sich auf. Noch ist sie fast leer. Unbesetzt. Unbeschwert. Das erscheint als wahrhaft beglückender Moment: Die Wehmut über das dem Opernbetrieb entzogene Palais Garnier weicht. Man läßt sich gerne ein auf die Idee der großen Modernisierung, die gerade der Oper - als Kunstgattung und als gesellschaftlichem Faktor - gut bekommen müßte.
Nach der Hymne, die Präsidenten und Publikum (letzteres nach mehr als zweistündiger Wartezeit in den Sicherheitszonen der Foyers) stehend absolvierten, bildete das Ronde du veau d'ore den sinnigen Auftakt: „Ja das Geld regiert die Welt“, singt Mephistopheles in Gounods Faust - und Ruggero Raimondi tat's mit Verve vor den Weltwirtschaftsgipfelohren. Aber damit hatte sich der literarische Esprit der Eröffnungs-Revue auch verbraucht. June Anderson brillierte mit den virtuosesten Meyerbeer -Koloraturen aus dem zweiten Akt der (aus dem Repertoire verschwundenen Komischen) Oper Dinorah. Dagegen hatte selbst Placido Domingo mit einer Nummer aus Samson et Dalila von Saint-Saens einen schweren Stand. Vor den einfachen, nach den bewährten (und auswechselbaren) Wilsonschen Mustern gefertigten Vorhängen zeigte sich auch Teresa Berganza - als Carmen - von der besten Seite. Alfredo Kraus brachte sich in Erinnerung - noch immer ein stolzer Tenor. Und Barbara Hendricks erwies sich aufs neue als verführerische Soprangestalt. Die Kostüme: von Christian Dior, Yves Saint-Laurent und den anderen namhaften Modeschöpfern der Stadt. Der Kapellmeister George Pretre gestaltete den Durchgang durch die Highlights der französischen Opern-Literatur des 19.Jahrhunderts routiniert und effektvoll.
Die Programmfolge hätte jedem Wunschkonzert der fünfziger Jahre alle Ehre gemacht. Nur: Wenn es denn ausschließlich französische Musik sein sollte, gab es denn keine vor -romantische und, vor allem, keine nach-romantische, keine moderne? Hätte sich denn nicht eine Revue mit einem dramaturgischen Gedanken präsentieren lassen - oder wenigstens auch eine Kostprobe von Offenbach, der ganz und gar Franzose wurde, oder von Strawinsky, der für die französische Musik so viel bedeutet und lange in Paris arbeitete? Noch die Reihenfolge der Sänger war von Lokalpatriotismus bestimmt. Martine Duouy, neben Alfredo Kraus als einzige mit zwei Auftritten bedacht, genoß Heimvorteil und hatte den Schlußapplaus für sich. Doch der drehte sich, nach der nochmals und nun kollektiv exekutiertenMarseillaise, dem goldenen Festochsen in der Mitte des ersten Rangs zu.
Zur Einweihung präsentierte sich das architektonisch so markant moderne und in seinen Funktionen der Zukunft zugewandte Haus als ein musikalisches Museum des 19.Jahrhunderts. Ob die Bastille-Oper eine zentrale bedeutsame Einrichtung des Musiktheaters wird, muß sich ab dem kommenden Frühjahr beweisen, wenn der geregelte Opern -Spielbetrieb aufgenommen wird. Dann kann die „Volksoper“ zeigen, daß sie nicht nur - zu vergleichsweise günstigen Eintrittspreisen - das Volk in ihren Bann schlägt, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft so zugetan ist, wie es das Palais Garnier seit 1875 immer wieder war.
Die Inauguration war als Spektakel auf den kleinsten gemeinsamen Nenner des Opernpublikums angelegt - und als medienverwertbare Häppchen-Schnellkost. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen bekamen das weltweit auf den Fernsehschirmen vorgesetzt; der Erlös dieser Aktion, acht Millionen Francs, spielte bereits ein Prozent der investierten Summe wieder ein. Dieser Kulturgipfel kostete die Fernsehanstalten der reichen Länder jeweils eine viertel bis eine halbe Million D-Mark, die Filipinos bekamen's für einen symbolischen Preis. An diesem Punkt siegte die Opern -Brüderlichkeit über den Gleichheitsgrundsatz. Das Volk, wie stets bei Festen der Oper weitgehend ausgesperrt oder nur als Zaungast dabei, wird in aller Ruhe darüber entscheiden, ob das dort an der Place de la Bastille seine Oper ist wenn denn die Verhältnisse in diesem Riesenapparat eine ruhige, sinnvolle und vielleicht auch ein wenig innovative künstlerische Arbeit ermöglichen. Das Symbol steht - aber Oper muß keine statische Einrichtung sein.
Frieder Reininghaus
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