: Massaker heiß und kalt
Umberto Eco über die Massaker in China ■ D I E A N D E R E N
Nehmen sie noch einmal die Zeitungen von Anfang Juni bis heute zur Hand. Die Ereignisse in China wurden nach und nach nicht mehr auf vier, sondern auf drei Seiten abgehandelt, dann verschwanden sie von der Seite eins, und jetzt kommen sie wieder - aber im Miniformat. Für die Massenmedien veralten Neuigkeiten sehr schnell, und auch wir können uns nicht sehr lange immer wieder beim selben erregen. Wir haben uns aufgeregt, als das Militär auf die Studenten schoß. Wir merken nicht, daß, was danach kam, noch schlimmer war.
Was auf dem Tiananmen geschah, war eine schreckliche Tragödie, und wir hatten allen Grund, uns aufzuregen. Aber der Verdacht wächst, daß das breite Publikum sich aufregte, wie wir alle uns aufregen, wenn wir hören, daß ein Flugzeug mit dreihundert Personen abgestürzt ist, während wir es als ganz normal hinnehmen, daß am Tag danach Zehntausende überall auf der Welt bei Autounfällen umkommen. Und doch wissen wir alle, daß es keine Frage von Zahlen ist: Es gibt Fälle, da macht ein einziges Verbrechen uns mehr Angst als ein Völkermord. Ich spreche jetzt von den Hinrichtungen, die der Repression folgten.
Ich stelle mir vor, wie Deng das Massaker auf dem Tiananmen rechtfertigen würde. Er hatte die wirtschaftliche Befreiung seines Landes versucht, dann wurde er von den Ereignissen überrollt, von seinem eigenen Werk bedroht: Er stand einer Volksbewegung gegenüber, konnte sie nicht kontrollieren, er konnte nur bis zu einem bestimmten Punkt nachgeben, und um sein Gesicht zu retten, mußte er zu einem Gewaltakt greifen. Er wollte nur den Platz räumen, aber man kennt das ja: Die Massen drängen, die Soldaten erschrecken, ein paar Studenten werfen mit Steinen, das Massaker beginnt. Aus der Geschichte kennt man zig solcher Fälle.
Aber nachdem er gewonnen hatte, setzt Deng mit einer Repression ein, die nicht mehr in der Hitze des Gefechts entsteht, sondern kalt geplant wird: Prozesse und Genickschüsse. Schlimmer noch: Diese Hinrichtungen werden im Fernsehen übertragen oder zumindest angekündigt und gerechtfertigt, sie werden zu Szenen in einem pädagogischen Theaterstück zur Erziehung der Kinder. Die Toten auf dem Tiananmen hätten ein Unfall sein können, die Hinrichtungen aber sind Momente eines Programms, die selbst wiederum das Blutbad zum Programm erheben und es für die Zukunft gesetzlich verankern.
Das Massaker an den Studenten war ein heißes. Es mußte uns erschrecken, sicher: Mehr aber noch muß uns das danach folgende kalte Massaker schrecken. Das ist das wirklich fürchterliche Ereignis, das die Menschheit ein paar Schritte zurückwirft. Während überall auf der Welt die Todesstrafe in Frage gestellt wird, wird sie in China wieder zu einem Regierungsinstrument und als abschreckendes Beispiel genutzt. Furcht sollten wir mehr als vor dem flüchtigen (im Fernsehen übertragenen) Anblick des mit Leichen übersäten Tiananmen vor dem von Kindersoldaten adrett besetzten Platz haben, die die geordnete Repression - die Exekutionen durchführen. Deng erzählt den Kindern jetzt nicht nur, daß die Studenten böse waren (Propaganda ist eben Propaganda), sondern er lehrt sie: Genickschüsse für schön und patriotisch zu halten; er fordert sie auf, diesen Akt mit Liedern und Gesängen zu feiern.
Das ist die Gefahr, die uns droht: daß Barbarei wieder wissenschaftlich gerechtfertigt werden kann. Wenn wir nicht anfangen darüber zu reden, dann ist China uns gefährlich nah.
Aus L'Espresso, 2.Juli 1989 Übersetzung: Albert Graf
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