Expositions-Zeit

■ Ein paar Fotoausstellungen lohnen die Reise nach Arles / Ruhe für die Bilder ist nach dem offiziellen Ende der „XX.Internationalen Begegnungen der Fotografie“ in Arles eingekehrt

Hubertus von Amelunxen

Hundertfünfzig Jahre Fotografie: Aber welcher Gestalt kann Geschichte überhaupt sein, angesichts eines Mediums, das immer nur dem Gegenwärtigen zugewandt ist, dieses zugleich aber als ein immer schon Vergangenes belichtet? Die Fotografie ist ein Medium, dessen Neuheit gerade dem Umstand entspringt, daß es sich von allem Vergangenen abhebt, um in der Jetztzeit dem vergangenen Augenblick erst in der Zukunft der Entwicklung Rechnung zu tragen - ein zugegeben teuflisches Paradox. Die Fotografie, ein Fallbeil, das in der Atomisierung der Geschichte in unzählige Augenblicke, das Fundament der chronologischen Zeit zerstäubt - Zeit ist nur noch eine „Ordnung der Exposition“ (Paul Virilio).

Während man hierzulande beschäftigt ist, den 150.Jahrestag der Fotografie zu begehen, wurde in Arles das 20.Jubiläum der alljährlichen Rencontres Internationales de la Photographie gefeiert. Vom 3. bis zum 9.Juli war die Stadt in ein riesiges Entwicklerbad getaucht: über 20 Ausstellungen, mehrtägige workshops unter der Leitung von Fotografen wie Lee Friedlander, Ralph Gibson, Allen Coleman, Arnaud Class, Rene Burri, Lucien Clergue, Franco Fontana, Bernard Plossu und anderen, Diskussionsforen, allabendlichen Projektionen vor jeweils 4.000 Zuschauern auf einer gigantischen Leinwand (acht mal acht Metern) im römischen Amphitheater und weitere Diashows auf der Place du Forum („Festival off“) bis in die frühen Morgenstunden. Ein amerikanischer Fotogalerist verglich Arles mit den Vögeln Hitchcocks. Die Rencontres gelten weltweit für die Fotografie als das bedeutendste Ereignis des Jahres, 'Le Monde‘ und 'Liberation‘ widmen ihnen Sonderausgaben, von den unzähligen Fotozeitschriften ganz zu schweigen, aber hält das alles einer nachträglichen Belichtung stand? Versuchen wir's. 1.Exposition: China

An der Fassade des erzbischöflichen Palastes sind überdimensionale Abzüge chinesischer Fotografien angebracht, die von den mörderischen Ereignissen vom 4.Juni auf dem Platz Tiananmen zeugen, gegenüber, auf der Place de la Republique, eine Fotomauer mit den emphatischen Dokumenten des demokratischen Aufbruchs und den tragischen des Massakers - eine fotografische Wandzeitung, eine Mauer der Republik, zusammengestellt von chinesischen Fotografen, die ihre belichteten Filme europäischen Kollegen noch hatten übermitteln können. Das Schicksal vieler der Fotografen ist bis heute ungewiß - versteckt, der Denunziation preisgegeben, inhaftiert oder ermordet. In China spricht man ja jetzt offiziell von einer „totalen Ausmerzung“ der „Rebellen“.

„Jede Fotografie von Personen ist gemacht, um dieselben darauf wiederzuerkennen“, so hieß es schon in Alphons Bertillons Buch zur gerichtlichen Fotografie Ende letzten Jahrhunderts; bekanntlich war die Hinrichtung vieler Kommunarden 1871 auf eine fotografische Identifizierung zurückzuführen. Die chinesischen Fotografen leben verborgen und müssen fürchten, daß ihre in aufklärerischer Absicht gemachten Bilder von der Diktatur zur Fahndung mißbraucht werden, ständig leben sie auch in der Angst um ihr eigenes Leben.

Am Abend des 7.Juli werden weitere Bilder chinesischer Fotografen im Amphitheater unter der Leitung von Christian Caujolle (verantwortlich für die Presseagentur 'Agence Vu‘) projiziert - was geschieht, ist erschreckend, menschenverachtend und mörderisch: Showbusiness - vor 4.000 Zuschauern wird eine telefonische Verbindung mit einem Fotografen in Peking hergestellt - als wollte man die Aktualität der Fotografie noch überbieten -, durch Lautsprecher amplifiziert, simultan übersetzt, tönt die Frage: „Wie geht es dir?“ - Schweigen und zaghaftes Bezeugen des Erstaunens aus Peking, schließlich Trauer und Abbruch des Gesprächs. Als Ausdruck der Enttäuschung über die mangelnde Kooperation bei einer Live-Sendung, so könnte man meinen, gibt der „Showmaster“ (Claude Hudelot, verantwortlich für die Rencontres) den Namen des Fotografen preis, was, wie wir heute wissen, einem Todesurteil gleichkommen kann. Diese unfaßbare Dummheit wäre Anlaß genug gewesen, die Rencontres zu boykottieren und offiziell zu protestieren, aber - der Kommerz ist ein gefräßiger Moloch - schon am nächsten Abend werden auf der Place du Forum Fotografien europäischer Fotografen aus China gezeigt, begleitet von einer seichten Trauermusik. Auf Proteste hin hieß es, man brauche die musikalische Untermalung, um den Lärm auf dem Platz zu übertönen und den Bildern die Stille zu geben. So wird Leiden in der Ästhetisierung zerstreut, Hoffnung ein zweites Mal erstickt. 2.Exposition: Aufklärung?

Die zeitgenössische Fotografie sie einfach zu betrachten, schrieb Robert Frank einmal, „and I prefer if it's not in colour and not about whores in India or South Africa“. Der französische Fotograf Xavier Zambardo fügt seinem von den Editions Contrejours verlegtem Buch, Ladies, eine Danksagung an Kodak, die Bars und die Bordelle in Thailand an. Drei Wochen habe er in Thailand, „dem größten Bordell dieser Welt“ (Originalton), fotografiert, als amerikanischer Mariner verkleidet. Als eine sozialdokumentarische Fotografie würdigt er selbst seine Arbeit, Kodak hat sie mit 400 hochempfindlichen T-MAXP3200 Filmen mitfinanziert („alles Aufnahmen ohne Flash“). Die europäische Reise-Sex -Industrie wird sich dieses offensichtlich völlig unbeholfenen Fotografen anzunehmen wissen - dem von Claude Nori und Gilles Mora vorgelegten Buch fehlt nur noch der Preis der feilgebotenen Ware. 3.Exposition: Inszenierung

„Jeder weiß, daß Arles nichts anders als ein Supermarkt der Fotografie ist“, so Robert Frank im Gespräch mit Louis Skorecki von 'Liberation‘ (Supplement, Nr.2521, Juli 1989). Schon Brassai sprach Anfang der siebziger Jahre von einem „Treffen von ausgewiesenen Amateuren“ und Michel Tournier nannte die Rencontres, an deren Entstehung er 1970 mitgewirkt hatte, „eine Fabrik mit steigendem Kapital“.

Daß die Veranstalter mit einem Kapital arbeiten, das mittlerweile die 6.000.000 Francs übersteigt, ist den Fotoaustellungen nicht anzusehen, wohl aber ihrer Inszenierung. Die vom Umfang her größte Ausstellung, „Deep South“ (Palais de l'Archeveche) - Bilder aus dem Süden Amerikas von Fotografen wie Robert Frank, Bruce Davidson, Duane Michaels, Gordon Parks, William Eggleston, Alain Devergnes, Deborah Caffery und anderen -, wurde am Abend des 4.Juli von dem Fotografen und Organisator dieser Ausstellung, Gilles Mora, spektakulär im antiken Theater inszeniert. Denn mit der Projektion verbunden war ein Rock'n'Roll-Konzert („Rock around the South“) des sagenhaften Carl Perkins, jener neben Elvis größten Kultfigur des Rock'n'Roll. Ein grandioser Erfolg, alle tobten, aber nicht nur die Puristen der Fotografie standen dem Spektakel eher unverständlich gegenüber.

Nicht anders bei den folgenden vier Abenden der Fotografie im römischen Theater: ob Claude Noris‘ geschmackloser Kurzfilm über seine Liebe zu Mädchenmodellen, ob die Projektion der Fotos italienischer Starletts (von Patellani) aus den fünfziger und sechziger Jahren, ob der Kodakfilm über einen zurecht vollkommen unbekannten englischen Fotografen oder die eklatant schlechten, mit Video unterstützten, Fotoromane (die nach der Projektion der chinesischen Fotografie gezeigt wurden), oder gar die von dem „Vater“ derRencontres, Lucien Clergue, vorgestellte eigene „Geschichte der Aktfotografie“ - diese Inszenierungen hinterlassen nur den Eindruck einer „foto-logischen“ (Adorno/Horkheimer) Verkaufsstrategie.

Daß im Zuge der Perestroika auch die sowjetische Fotografie vor Ort sein soillte, zeigte sich in der Vorführung eines Films. Die in Arles anwesenden russischen FotografInnen selbst kamen jedoch nicht oder nur kaum zu Wort, ihre Bilder wurden in keiner Ausstellung gezeigt: Warum? Eine lange Geschichte in wenigen Worten: Vor mehr als zwei Jahren zeigte das Musee de l'Elysee in Lausanne Bilder russischer FotografInnen, auf die Intervention hin von Marie-Francoise George wurde diese Ausstellung mit Polizeigewalt untersagt. Die Dame ist Pressereferentin der Rencontres, zugleich aber Verantwortliche des „Comptoir de la Photographie“ in Paris, eine Vertriebsagentur ausländischer Fotografie. In einem Knebelvertrag hatte sie sich alle Rechte dieser FotografInnen zuschreiben lassen und konnte die Präsentation in Lausanne wie auch jene in Arles (aber warum in Arles?) verhindern. Es ist dies nur ein weiteres Zeugnis dafür, in welchem Ausmaße die Perestroika in den Rachen des Kapitals gerät. 4.Exposition: Robert Frank

Die wichtigsten Ausstellungen in Arles sind dem erst 1985 von Charles-Henri Favrod geschaffenen Musee de l'Elysee und musee pour la photographie in Lausanne zu danken. Abgesehen von den zuvor nur in der Basler Kunsthalle gezeigten Fotografien von Dennis Hopper - Aufnahmen der amerikanischen Kunstszene der sechziger Jahre, von Rauschenberg, Warhol, Lichtenberg, Jasper Johns oder David Hockney, aber auch von Martin Luther King, auf den die Mikrofone wie Waffen drohend gerichtet sind - sind alle Ausstellungen des Musee de l'Elysee in eigener Verantwortung und Regie veranstaltet worden.

Robert Frank ist nicht nach Arles gekommen, aber eine Retrospektive zeigt The Lines of My Hand, eine in Teilen schon 1971 in Tokio gezeigte, aber in Arles erheblich erweitere und von einem Katalogbuch begleitete, beeindruckende Ausstellung. Seit den Americans (1957/58) hat Robert Frank eine Fotografie maßgeblich mitbestimmt, die bewußt zufällige Elemente der Bewegung einer ausgefeilten ästhetischen Komposition vorzieht. The Lines of My Hand sind keine Chiromantie, es sind Eindrücke der persönlichen, „willkürlichen“ Begegnung mit der vornehmlich amerikanischen Wirklichkeit - Lebenslinien.

„I'm absolutely interested in imperfection“, sagt Frank. „Niemand weiß, wie all das jemals enden wird. Das Leben geht weiter, und die Fotos haben dieses unglaubliche Vermögen, das rüberzubringen, das, was nicht fertig ist, was sich fortsetzt. Das einzige, was diese Bewegung unterbricht, ist der Verlust. Der Verlust eines Menschen, der Tod, das Ende.“ Seine Bilder aus den siebziger und achtziger Jahren wirken teils wie vergrößerte Kontakte mit ausgefransten Rändern um keinen Millimeter soll der fotografische Eindruck beschnitten werden. Sie sind zusammengestellt und oft mit Schriftzügen versehen. Franks Fotografie zerstört Wahrnehmungsmuster, die sich an der Abgeschlossenheit des Rahmens orientieren.

An der Wäscheleine hängt ein sorgfältig geschnittenes Bild

-eine Tuba, wie ein Auge, unter dem amerikanischen Banner verdeckt den Kopf des Musikers - eine Wirklichkeit wird zum Trocknen in den Wind gehängt. Daneben nicht in den Dienst genommene Wäscheklamern und schließlich auf dunklem Papier aufgeklebt eine Belichtung mit den Lettern „words“. Unvermittelt hängen sie im Wind, am Strand von Mabou, Nova Scotia, 1981, der eh von Wolken verhangene Himmel wird mit einem patchwork zugekleistert, gebildet aus der Fotografie nicht tönender Musik und dem Bild nicht sprechender Worte. 5.Exposition: Julio Mitchel

Es ist das Schicksal unbekannter Fotografen, die sich dem Kommerz entziehen, den berühmten angebunden zu werden. So zeigt das Musee de l'Elysee in Arles mehrmals eine Ausstellung des seit 1960 in Brooklyn lebenden Kubaners Julio Mitchel (geb. 1942). Die Veranstalter der Rencontres sahen sich genötigt, ihn als eine „Entdeckung“ Robert Franks auszuweisen. Eine vollkommen unbedeutende und übrigens falsche - Legitimierung einer Fotografie, die von einer selten gesehenen Ausdrucksstärke ist.

Triptych nennt Julio Mitchel die Zusammenstellung von drei Themen: Krieg, Tod, Liebe. Klassisch, möchte man sagen, wenn Mitchel hier nicht eine Gegenüberstellung geleistet hätte, die in einem ganz anderen Sinn dem Titel und Thema gerecht wird: „Triptych(on)“, jedem Thema sind ungefähr 15 Bilder gewidmet, die in einem Zeitraum von 20 Jahren gemacht wurden. Bilder des Bürgerkriegs aus dem Libanon und aus Nordirland, Kinder, ob im weißen Kommunionskleid (die Kommunion als Bürgerkrieg) eilig aus dem Ausschnitt der Kamera heraustretend oder im Lastwagen mit Pistolen und Maschinengewehren. In den Bildern zeigen sich Blicke der Angst oder der Indifferenz, ohne eine Ahnung von Hoffnung. Die zweite „Tafel“ oder Reihe ist aus Bildern eines New Yorker Spitals für chronisch Kranke zusammengestellt, die ewige Wiederkehr des Immergleichen, das Warten auf die einzige denkbare Finalität, Blicke, die nicht erwidert, Aussichten, die niemals tragen werden. Die dritte Tafel des „Triptychons“ zeigt auch hier sehr dunkel gehaltene Bilder der Liebe, viele sind mit dem Selbstauslöser fotografiert, nur auf die Körper fällt ein Widerschein des Lichts. Jede Umarmung ist fragmentarisch aus dem Akt herausgebrochen. Der erste Eindruck, die zwei anderen Tafeln ließen sich in diese dritte gleichsam „erlösend“ hineinfallen, täuscht. Einzig in den letzten Bildern des Orgasmus scheint die Entschiedenheit des Todes für einen Augenblick aufgehoben.

Das Triptychon, die dreimal gefaltete Tafel, visualisiert, wie eben das Altarbild, eine zeitliche Entwicklung, die jedoch hier unter dem Zeichen einer Endlichkeit steht. Wie der Spiegel, deren beiden Flügel alles zu erfassen vorgeben, und doch nur eine infinite Verdoppelung des Immergleichen widerspiegeln. Die Fotografien Julio Mitchels sind die Entdeckung der Rencontres. Bislang hatte es nur Alan Coleman in New York gewagt, ihn auszustellen. Es ist zu hoffen, daß Mitchels andere Arbeiten über verarmte Juden in New York, über Transvestiten, über „Street fighting“ der Kinder in New York oder auch seine Porträts von Jazz -Musikern bald die ihnen gebührende Öffentlichkeit finden werden. 6.Exposition: Roland Schneider

Neben Frank und Mitchel stellt das Musee de l'Elysee die Arbeiten des Schweizer Fotografen Roland Schneider aus: Zwischenzeit - Entretemps. In einer psychiatrischen Klinik in Soleure interniert, hat Schneider zwischen 1987 und 1988 seine unmittelbare Umgebung mit Kamera und Schrift aufgezeichnet. Ein wankendes Schiff voller Lebensbrüchiger nennt er die Klinik. Ob eine Handtuchstange, ein Ausguß, der einem vergitteren Auge gleicht (Kirchenfenster), eine Papierrolle oder ein Türknauf, jeder Gegenstand gewinnt die Bedeutung einer quasi analytischen Übertragung, deren Medium die Fotografie ist.

Zwischenzeit ist die klinische Zeit der Inkubation und des Übergangs, die Bilder bieten eine fotografische Bestandaufnahme der Isolation, der die Menschen ebenso wie die Dinge in einer - allerdings zeitlos wirkenden Abgeschiedenheit verfallen sind. Blicke der Angst oder der Verzweiflung, in seinem Text schreibt Roland Schneider, Pierre, ein junger Mann, wisse nur den Satz zu sagen, morgen sei Sonntag. Jede Belichtung verlangt nach einer Entwicklung in der Zeit, die den Dingen und dem Dasein einen Ausweg in die Freiheit vor Augen führen könnte. In der Ausstellung werden von einem Rundmagazin Dias projiziert, alles wiederholt sich, auf Band ist ein Text von Schneider aufgenommen. Er spricht von einem Fernsehraum: „Das Klicken meines Apparates verstört die Todesstille, die jedesmal einsetzt, wenn man, für einen Augenblick nicht im Fernseher spricht.“

Die Ausstellungen laufen bis zum 3.September. Kataloge:

Robert Frank: The Lines of My Hand, Editions Parkett/Der Alltag 1989.

Julio Mitchel: Triptych, Editions Parkett/Der Alltag 1989.

Roland Schneider: Entre-temps, Editions Parkett/Der Alltag 1989.