Südkorea gilt jetzt als entwickelt

Der einst zu den allerärmsten Entwicklungsländern zählende Staat soll die Präferenzen für Drittweltstaaten in Welthandelssystem Gatt verlieren und peilt einen Beitritt zur OECD zu Beginn der 90er Jahre an / Aber einige Voraussetzungen für die vergangene rasante Entwicklung fallen nun weg  ■  Aus Seoul Peter Jakobs

Ehrgeizige Ziele haben sie sich gesetzt, die südkoreanischen Chefökonomen aus dem Wirtschaftsplanungsministerium: Das ehemals hochverschuldete Schwellenland, als Musterschüler für nachholende Industrialisierung und Schuldenmanagement von seinen westlichen Verbündeten und der internationalen Finanzwelt gleichermaßen hofiert, setzt an zu einer letzten großen Aufholjagd.

Automation, Innovation und Internationalisierung lauten die Schlagworte; der zweite wirtschaftliche „take off“, wie es im Fachjargon heißt, soll den geteilten ostasiatischen Staat - in den Fünfzigern und Anfang der sechziger Jahre noch eines der ärmsten Entwicklungsländer der Erde - endgültig in die Ränge der reichsten Industrienationen katapultieren.

Bis 1992, so die markigen Sprüche in Seoul, würden die Exporte auf fast 100 Milliarden US-Dollar ansteigen, das Pro -Kopf-Einkommen auf rund 6.000 Dollar hochschnellen und sich zur Wende des Jahrtausends erneut verdoppelt haben. Die Bilanz ist beeindruckend: Bereits heute zählt das Schwellenland weltweit zu den größten Schiffsbauern, den bedeutendsten Elektronik-, Textil- und Schuhexporteuren. Doch die Regierung unter Roh Tae Woo gerät in eine Zwickmühle.

Die Erfolgsmeldungen haben die westlichen Industriestaaten auf den Plan gerufen. Sie fordern weitere Öffnung, Deregulierung der Agrar-, Kapital- und Dienstleistungsmärkte. Vor allem verlangen sie die Übernahme von mehr „weltwirtschaftlicher Verantwortung“. Allen voran die Schutzmacht USA, aber auch Japan und die EG drängen Südkorea auf einen baldigen Eintritt in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), den Pariser Exclusivclub der kapitalistisch entwickelten Welt.

Aber Seouls Machthabern schmeckt dieser Gedanke nicht so recht. Denn ein solcher Schritt würde noch mehr Liberalisierung bedeuten - und da stoßen sie im Inneren auf wachsende Widerstände. Insbesondere die vielen kleinen hochverschuldeten Farmer, durch eien verfehlte Agrarpolitik der Vergangenheit an den Rand der Existenz gedrückt, gehen auf die Barrikaden. Sie sagen, die Regierung hätte bereits zu viele Konzessionen gemacht und der Import billiger Agrarerzeugnisse aus den USA würde sie in den endgültigen Ruin treiben. Gleichzeitig fordern Arbeiter, was ihnen während jahrzehntelanger Militärherrschaft vorenthalten wurde: Bildung freier Gewerkschaften, höhere Löhne und Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand.

Den wirtschaftlichen Aufstieg von einem armen Entwicklungs zu einem blühenden Schwellenland hat Südkorea in erster Linie ihnen zu verdanken. Politisch unterdrückt und mit einem Gemisch aus konfuzianistischer Arbeitsethik, Firmenpatriarchalismus sowie der eisernen Faust eines Diktors im Nacken schufen sie in erster Linie für den Export und den Wohlstand einer kleinen Militärclique. Diese sorgte für den Aufbau des Imperiums der koreanischen Großkonzerne („Chasebols“) und verordnete dem Land die Exportindustrialisierung.

Mit der beginnenden Demokratisierung werden die strukturellen Mängel der einseitigen Industrialisierungsstrategie der Militärs jedoch ans Tageslicht befördert: Konzentration wirtschaftlicher Macht, räumliche Zentralisierung, zunehmende Einkommensdisparitäten und das Fehlen einer unabhängigen Klein- und Mittelindustrie kennzeichnen die Wirtschaftsstruktur. Mehr denn je steht das südkoreanische Exportmodell auf tönernen Füßen.

Einige Ökonomen erkennen, daß die hohe Abhängigkeit Südkoreas von den Märkten in den USA und Japan das Wachstum auf Dauer gefährdet. Sie fordern deshalb eine verstärkte Entwicklung des Binnenmarktes. Doch das ist leichter gesagt als getan, nach mehr als 20 Jahren Exportorientierung und einer schwach entwickelten inländischen Kaufkraft. Dennoch sollen 1989 schon mehr Autos auf den heimischen Märkten abgesetzt werden als im Ausland.

Als Südkorea Mitte 1986 bei seinen ausländischen Geldgebern noch mit 47,4 Milliarden Dollar in der Kreide stand, rechneten viele damit, daß dem Land das Los der hochverschuldeten lateinamerikanischen Staaten doch nicht erspart bliebe. Aber die Situation veränderte sich schlagartig: Ein wirtschaftlicher Boom platzte mitten in die vorolympische Zeit und die Demokratisierungsankündigung vom Juli 1987. Wirtschaft und Exporte florierten, trotz Streiks und zweistelliger Lohnerhöhungen.

Ende des gleichen Jahres machte die Vergabe von Entwicklungshilfekrediten des einstigen Empfängers von Entwicklungshilfe an Nigeria und Indonesien Schlagzeilen. Die Öffnung des Handels mit sozialistischen Staaten und die Olympiade stärkten zusätzlich Rücken und Selbstbewußtsein der Südkoreaner. In den internationalen Organisationen wie Währungsfond und Weltbank erhöhte das Land seine Kapital und Stimmrechtsanteile.

Drei Jahre in Folge - von 1986 bis 1988 - stieg das Wirtschaftswachstum mit zwölf und mehr Prozent. Die Überschüsse in der Handelsbilanz vergrößerten sich 1988 auf 10,5 Milliarden Dollar und ermöglichten dem Land bis heute die Tilgung seiner Auslandsverschuldung auf fast 30 Milliarden Dollar. Allein 17,1 Milliarden Dollar Zinsen auf ausländische Darlehen wurden zwischen 1984 und 1988 zurückgezahlt. Zugleich kletterten die Handelsüberschüsse mit den USA und der EG auf über zehn Milliarden Dollar. Und es kam, was kommen mußte.

Diese beiden Anwälte des freien Welthandels, selbst nicht zimperlich, wenn es um den Schutz der eigenen Märkte geht, machten ihre Drohungen wahr und strichen 1988 kurzerhand die Zollpräferenzen für Südkorea. Mit Anti-Dumpingklagen und Importquoten wehrten sich die mächtigen Handelsblöcke gegen die Exportoffensive aus Ostasien. Mitte dieses Jahres trotzte Washington den Koreanern eine weitere Öffnung des Agrarmarktes ab, und so blieben dem Schwellenland vorläufige Vergeltungsmaßnahmen nach dem US-Handelsgesetz erspart. Aber im Gatt soll es jetzt endültig den Begünstigtenstatus eines Entwicklungslandes verlieren. Das Land könne nicht immer nur von den Vorteilen des internationalen Warenaustauschs profitieren, sagen die US-Handelspolitiker, sondern müsse „Spielregeln im Welthandel“ einhalten und lernen zu geben.

Und mit seinen Öffnungsmaßnahmen hat es gegeben; mehr noch, als vor zwei Jahren vorstellbar, sagen selbst in Seoul ansässige Auslandsfirmen. Doch einen OECD-Beitritt möchte die Regierung frühestens Anfang der 90er Jahren wagen. Zuwachs an Prestige und Image im Weltmarktensemble haben zwar „psychologischen“ Auftrieb gegeben, aber die internen Anpassungsprobleme können damit noch längst nicht gelöst werden. Der wirtschaftliche Boom der vergangenen drei Jahre scheint vorüber, nachdem sich in der ersten Jahreshälfte 1989 das Wirtschaftswachstum fast halbierte und die Steigerungen im Export nur noch einstellig ausfielen. Soziale Widersprüche brechen auf, und konservative Stimmen, die nach law and order rufen, werden wieder lauter.

Südkoreas Geschäftswelt malt bereits das Schreckgespenst der Rezession an die Wand und droht, das Schwellenland würde den Weg vieler lateinamerikanischer Staaten gehen, wenn die Arbeiter ihre Ansprüche nicht zurückschraubten. Der einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Krise, sagte Handelsminister Han, sei die technologische Entwicklung. „Wenn Südkorea dieses Rennen nicht gewinnt“, mahnt der Minister, „könnte es zu einem anderen Brasilien oder Mexiko“ werden. Und deshalb sollen alle, mit viel Fleiß und Verzicht, versteht sich, für das große Ziel arbeiten, den zweiten „take off“, den Sprung des Landes in die reiche Industriewelt.