: Der Vitaminschock am Rhein
Wasserwerke am großen Strom sind in heller Aufregung / Harmlose Säure aus der Vitaminproduktion liefert überhöhte Pestizidwerte / Ist das Wasser nicht bis Oktober clean, müssen die Wasserwerke eine imageschädigende Ausnahmeregelung beantragen ■ Aus Freiburg Nik Geiler
Ausgerechnet die Produktion des so unverdächtigen Vitamin C sorgt derzeit bei den Rheinwasserwerken für Unruhe. Normalerweise findet Vitamin C Verwendung als Zusatz zu Limonaden, Fruchsäften, Wein, Kindernahrung, Bonbons oder Kakaogetränken. Auch zur Stabilisierung der Fleischfarbe, zur Backverbesserung im Mehl oder zur Nährwertstabilisierung bei Konserven und Tiefkühlkost wird es eingesetzt. Und jetzt findet sich ein Zwischenprodukt aus der Vitamin-C -Herstellung auch noch im Trinkwasser. Millionen Menschen entlang der Rheinschiene schlucken seit Jahren Diaceton -Ketogulon-Säure.
Auf die Spur ist man dieser „Säure“ im Wiesbadener Wasserwerk gekommen. Im soeben erschienen Heft 7 der Fachzeitschrift 'GWF-Wasser/Abwasser‘ haben die Analytiker aus Wiesbaden ihre Befunde publiziert. Inzwischen wissen sie auch, woher der Stoff stammt: Diaceton-Ketogulon-Säure entsteht bei der Vitamin-C-Produktion im Grenzacher Hoffman -La Roche-Werk am Hochrhein, außerdem in der Darmstädter Merck-Fabrikation. Beide Werke produzieren zusammen jährlich 17.000 Tonnen Vitamin C. Bei Merck fließt die schwer abbaubare Verbindung über die werkseigene Kläranlage in den Landgraben. Und der Landgraben wiederum mündet kurz oberhalb der Mainmündung in den Rhein. Da das Abfallprodukt aus der Vitamin-C-Produktion gut wasserlöslich ist, durchdringt die „Säure“ unbehelligt die Uferfiltratpassage und die Aufbereitungsanlagen der Rheinwasserwerke.
Gefahr im Verzug also? Nicht unbedingt. Gesundheitlich wird das Vitamin-Produkt als unbedenklich eingestuft. Selbst gewöhnliches Kochsalz ist doppelt so „giftig“. Die eigentliche Brisanz liegt darin, daß das Natriumsalz der Diaceton-Ketogulon-Säure unter dem Handelsnamen „Atrival“ im Zierpflanzenbau als „Pflanzenbehandlungsmittel“ eingesetzt wird. Eine Zürcher Firma vertreibt diese Substanz, die als „Wuchshemmer“ dafür sorgt, daß Zierpflanzen ein buschigeres Aussehen bekommen. Vermutlich wird ein Großteil dieses Wuchshemmers im niederländischen Blumenanbau abgesetzt. Da der „Wuchshemmer“ aber zu den „Pflanzenschutzmitteln“ gehört, fällt er unter die EG-Trinkwasser-Richtlinie. Und die schreibt vor, daß ab 1.Oktober höchstens 0,1 Mikrogramm pro Liter im Trinkwasser enthalten sein dürfen. Die schwer abbaubare Verbindung wurde jedoch in einem südhessischen Brunnen in 200fach höheren Konzentraten und im Trinkwasser der Rheinwasserwerke in zehnfach höheren Konzentrationen festgestellt. Bei rigider Anwendung der EG-Richtlinien ab 1.Oktober säßen der Großraum Frankfurt, Köln, Düsseldorf und andere große Rheinstädte sowie viele niederländische Gemeinden auf dem Trockenen. Falls es den beiden Vitaminproduzenten bis Oktober nicht gelingt, die Emission der Zwischenprodukte abzustellen, müßten alle Wasserwerke entlang des Rheins eine Ausnahmeregelung beantragen. Ansonsten dürften sie ihr Trinkwasser ab 1.Oktober wegen Nichteinhaltung der Trinkwasserverordnung nicht mehr an die Konsumenten liefern.
Die Ausnahmeregelung fürchten die Wasserwerke aber wie der Teufel das Weihwasser. Sie käme einem Geständnis gleich: Brauchen die Wasserwerke jetzt Sondergenehmigungen, um Trinkwasser zu verkaufen? Diese Imageschädigung will man unbedingt vermeiden. Die Säure muß weg! Doch das Zwischenprodukt aus dem Abwasser zu entfernen ist nicht einfach. Die Abwässer, die die Diaceton-Ketogulon-Säure enthalten, sind sehr aggressiv. Die Behälter, in denen die Säure unter hohem Druck, bei hohen Temperaturen geknackt („hydrolysiert“) werden kann, müssen höchsten Werkstoffanforderungen genügen: ein Riesenaufwand.
Die Wasserwerker zeigen sich ausgesprochen verärgert über den „Wuchshemmer“ aus der Vitamin-C-Produktion. Durch eine ständige Optimierung der Trinkwasseraufbereitung war es den Rheinwasserwerken gelungen, die Pestizidkonzentration im aufbereiteten Rheinwasser sehr niedrig zu halten. Und jetzt droht das Abfallprodukt aus der Vitamin-Produktion, alle Anstrengungen zunichte zu machen. Die Konzentration von Diaceton-Ketogulon-Säure übersteigt die Summe aller anderen im Rheinwasser vorhandenen Pflanzenbehandlungsmittel um ein Vielfaches. Auf seiten der Wasserwerke wird befürchtet, daß die Trinkwasserkonsumenten nicht zwischen der harmlosen Diaceton-Ketogulon-Säure und den weit gefährlicheren Pestiziden unterscheiden werden. Letztlich würden von dieser neuerlichen Imageschädigung des Trinkwassers nur die Mineralwasser- und Sprudelfabrikanten profitieren. Und die füllen in ihre Limonaden tonnenweise Vitamic C von Hoffmann -La Roche und Merck ab.
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