Vorlauf: Kaltgestellt

■ Ein Deutsches Schicksal: Viktor Agartz

(Ein deutsches Schicksal: Viktor Agartz, 21.40 Uhr, West 3) Wer ist Viktor Agartz? Selbst gestandene Sozialdemokraten müssen bei dieser Frage passen. Heute wissen sie es einfach nicht mehr, vor dreißig Jahren wollten sie es nicht wissen. Dabei stand der gelernte Nationalökonom Seite an Seite mit Kurt Schumacher und war in den Nachkriegsjahren der entscheidende Wirtschaftstheoretiker der SPD. Als Leiter des Zentralamtes für Wirtschaft in der amerikanisch-britischen Zone vertrat Agartz leidenschaftlich die Sozialisierung wichtiger Industriezweige und favorisierte eine interessante Verbindung aus rätedemokratisch organisierter Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen. Eine Theorie, die vielleicht einen dritten Weg zwischen den Blöcken hätte bedeuten können. Aber dazu kam es nicht mehr. Als Viktor Agartz 1964 starb, war er auch von den eigenen Genossen verstoßen und vergessen.

Der Geist der jungen Republik tendierte schon damals nach rechts. Die SPD ebenfalls. Auf dem Weg zur Volkspartei konnte sie sich unbequeme Querdenker bald nicht mehr leisten. Aber warum drängte die SPD Viktor Agartz in die völlige Isolierung, schwieg ihn sogar derart beharrlich tot, daß sich heute kaum noch Dokumente von ihm finden lassen? Die Autoren des Films ließen sich trotz Materialarmut nicht entmutigen. Was sie fanden, ist nicht viel, aber es ließ sich daraus ein Schicksal rekonstruieren, das sicher in vielem als tpyisch für politische Karriereknicks des Kalten Krieges gelten kann. Viktor Agartz stolperte schließlich über seine neugegründete Zeitung. Er ließ sich auf ein Sammelabonnement mit dem Gewerkschaftsbund der DDR ein und wurde darauf wegen Landesverrats angeklagt. Ein schäbiger Schauprozeß für den geistigen Vater der Einheitsgewerkschaft. Und ein Spektakel, das nach außen hin die Distanzierung der SPD von ihrem Mitglied nur unterstreichen sollte, während Agartz intern längst kaltgestellt war. Obwohl nur wenig dokumentiert ist, gelingt es den Autoren, das ungeschickte Taktieren von Agartz und die Winkelzüge der Parteistrategen zu einem zeitkritischen Mosaik zu montieren. Das hebt den Film über das Niveau einer durchschnittlichen Fernseh-Geschichtsstunde hinaus.

Christof Boy