: Verstellter Blick auf das Notwendige
89.Deutsche Leichtathletikmeisterschaften / Überraschungen aus Berlin / Sportwart Manfred Steinbach sieht Fortschritte ■ Aus Hamburg Karl-W.Götte
Wer hätte es gedacht. Die bundesdeutsche Leichtathletik ist doch nicht so schlecht wie ihr angekratzter Ruf. Nicht nur die Zuschauer - 30.000 (mehr als beim HSV, freuten sich eingefleischte Fußballgegner) kamen ingesamt zur 89.Auflage der Titelkämpfe -, sondern auch die Athleten beiderlei Geschlechts nutzten die guten Rahmenbedingungen.
Vor allem die Berliner zeigten es dem Rest der Nation ganz gewaltig. Am Freitag abend marschierte Volkmar Scholz unangefochten in neuer Meisterschaftsrekordzeit (1:25,46 Stunden) über die 20-Kilometer-Sprintdistanz der Geher ins Volksparkstadion, und auch das Berliner Leistungshoch hielt an. Zwei Namen drückten dem Samstag nachmittag den Stempel auf. Als sei es abgesprochen, feierten Dietmar Koszewski über 110-Meter-Hürden und Andrea Arens im Hochsprung kurz hintereinander Siege über die vorher als haushohe Favoriten gehandelten Konkurrenten. „Natürlich ist mein Selbstbewußtsein in diesem Jahr durch meine technischen Verbesserungen gewachsen, aber den Florian Schwarthoff zu schlagen, daran hatte ich nicht geglaubt“, gestand der 22jährige Musikstudent nach dem Rennen ein. Dietmar Koszewski (13,63 Sekunden bei 1,6 Metern Gegenwind!), der ideale Hürdensprintertytp - 1,92 Meter groß und 89 Kilogramm schwer - hat vor allem die „Schwungbeinbewegung“ verbessert und sich „mehr auf die erste und letzte Hürde konzentriert“. Dazu läuft er - extrem kurzsichtig - endlich mit Brille. Koszewski: „Mein Gefühl für die Nähe der Hürden hat sich erstaunlich verändert.“
Andrea Arens, gebürtig aus dem westfälischen Hohenlimburg und seit zwei Jahren bei Trainer und Freund Armin Baumert in Berlin, schaffte die Sensation der Meisterschaft. Die schlanke, 1,83 Meter große Hochspringerin verbesserte in einem wahren Sprungrausch ihre persönliche Bestleistung um eine kleine Unendlichkeit, nämlich um sechs Zentimeter („Seit Meyfarth nicht dagewesen“, raunten sich Fachleute zu) auf 1,98 Meter und besiegte die Abonnementsmeisterin Heike Henkel (vormals Redetzky). Letztes Jahr kam Andrea Arens, allerdings verletzungsbedingt, nur auf magere 1,81 Meter. „Vielleicht bekomme ich nun etwas Sporthilfe“, hoffte die 22jährige Biologiestudentin, die sich in keinem Kader des bundesdeutschen Leichtathletikverbandes (DLV) findet, nach ihrem Titelgewinn.
Die Athleten ließen ihn nicht im Stich. Obwohl er erst seit April im Amt ist, fühlt sich „der Professor“, wie sie ihn nennen, Sportwart Manfred Steinbach, für den Zustand der bundesdeutschen Leichtathletik bereits sichtbar verantwortlich. „Die Briten haben uns von unserem angestammten vierten Platz in der Welt verdrängt. Das Ziel ist, diesen Platz zurückzuerobern“, formuliert Steinbach die einfach klingende Perspektive. „Wir müssen eine ganz entschiedene Nachwuchsförderung betreiben. Die alte Garde der Hochspringer und die Werfer haben uns in den letzten Jahren den Blick für das Notwendige verstellt“, erläutert Steinbach.
Seine erste Maßnahme tangierte die Trainer, das schwierigste Kapitel der Leichtathletik. Hier bestand er auf einer klaren Trennung zwischen den Bundes- und Heimtrainern, die mit den Athleten und Athletinnen arbeiten, und den planenden Bürokraten am Schreibtisch. „Wer hat noch Ambitionen am Mann und wer will organisatorisch tätig sein“, hieß Steinbachs Gretchenfrage. Jetzt sitzen vier Cheftrainer, Wolfgang Bergmann (Sprung/Mehrkampf), Karl -Heinz Leverköhne (Wurf), Lothar Hirsch (Mittel- und Langstrecke) sowie Bernhard Thiele (Sprint) in der Darmstädter DLV-Zentrale am Schreibtisch und versuchen die 40 Disziplinen umfassende Sportart zu koordinieren.
Die Heimtrainer, die direkt mit den Sportlern arbeiten, sollen allen organisatorischen Kleinkram abgenommen bekommen und sich voll auf die Leistungsoptimierung ihrer Schützlinge konzentrieren können. Erste Erfolge wurden in Hamburg sichtbar, was Steinbach natürlich freute. „Trotzdem müssen wir bis zum nächsten großen Schritt, der Olympiade 1992, noch aus vielen schrecklichen Fehlern - zum Beispiel Mittel und Langstrecken - heraus und zu einem geschlossenen Leistungsbild kommen“, gibt der Sportwart zu verstehen. „Mit der Kompetenzabstimmung im Trainerbereich sind wir auf dem richtigen Wege, und gerade dafür muß man jeden Tag aufs Neue kämpfen.“
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