: Das Begehren das stirbt
■ Über den flämischen Theatermacher Jan Fabre und die Grausamkeit des Genießens
Arnd Wesemann
In Frankfurt zieht ein Theater auf, das den Gewohnheiten des Stadttheaters nicht entspricht und doch sich von ihm ernährt. Der Choreograph William Forsythe zum Beispiel, Ballettchef amerikanischer Herkunft an den Städtischen Büghnen, hat „Inhaltliches“ aus dem Ballett gestrichen. Einar Schleef, Regisseur des Götz von Berlichingen, des Nachtasyl Gorkis, betreibt dramaturgisch einleuchtend und stimmig eine radikale Dekonstruktion der Dramentexte. Der flämische Theatermacher Jan Fabre schließlich hat mit vier Aufführungen, darunter drei Uraufführungen, dem Theater jeden Sinn, jedes Bedeuten, jede Botschaft genommen. Seine Inszenierungen sind Theater, in das man schaut wie in ein Aquarium.
41 Minuten steht Els Deceukelier unbewegt auf der Bühne. Nach der 31.Minute rinnt Blut ihren Rücken hinab. Zu Henryk Mikolaj Goreckis Symphonie der Klagelieder fallen Haare büschelweise auf die blaue Bühne. 31 Scheren hängen im Bühnenhimmel. Neun Scheren stecken im Haar der zehn Tänzerinnen. Die 41.Schere trägt Els Deceukelier, die das Haareschneiden pantomimt. Zwei Rittern, den Zwillingen Peter und Paul Verwoort, wird der Kopf gewaschen. Marteen Königsberger betritt dreimal singend die Bühne mit einer Eule auf der Schulter. Der Titel: Das Glas im Kopf wird vom Glas, es ist Teil einer von Jan Fabre geplanten Opern -Trilogie The minds of Helena Troubleyn, die voraussichtlich 1990 in Brüssel gesamtaufgeführt wird.
Ritter, Haare und Eule: das sind keine bedeutungsvollen Zeichen, sondern Elemente in Fabres Theater, die sich verhalten wie Fische in einem Glasbecken. Sie kommen miteinander aus.
In seinem in Franfurt jetzt uraufgeführten Stück Das Interview das stirbt... stehen vier Tische auf der Bühne. Elf Fische liegen auf dem Salzboden. Elf minus vier sind in summa sieben Sekunden. Sieben Sekunden Pause zwischen jeweils einem gesprochenen Wort, Pause, Wort für Wort Poeterei, gottgefundene Plauderei ohne tiefere Bedeutsamkeit. Unmöglich, das als Botschaft entziffern zu wollen.
Sieben Sekunden Pause zwischen zwei Worten sind der Kritik verpönt: „Nach 64 Minuten machen wir Schluß. Woran wir teilgenommen hatten bis dahin, war vom sinnlichen Reiz und der Intellektuelität des Theorieunterrichts in einer Fahrschule.“ 64 Minuten: der Kritiker Peter Iden nutzte die Uhr nicht besser. Sie ließ die Gesetzmäßigkeit, die Zeitspannen erkennen, die den arithmetischen Text in Fabres Theater bilden. Welcher Kritiker denkt daran, mit Stoppuhr ins Theater zu gehen? In die Stille geworfen, richtet das feuilletonistische Gottesgericht sich zonrig auf gegen ein von Sinn gereinigtes Theater. „Fahrschule“ und „Unterricht“: kein unpassenderer Vergleich war zu finden. Der Kreuzgang, den Kritik einfordert („Intellektualität“ vertikal, „sinnlicher Reiz“ horizontal): unter solchen Kreuzgang kriecht Fabre nicht. Der 29jährige Flame geht dem didaktischen Diktat aus dem Weg, verzichtet auf eine Gebrauchsanweisung für sein Regelwerk und auf eine Fahrschule für die Kritik. Sein Theater ist unerbittlich lang, zäh - langweilig. Über sein Theater ist enweder nichts zu sagen oder Fabre führt uns dazu, es endlos zu kommentieren. Wir spielen die Gelehrten, während er uns erstickend anschweigt. Keine Schule setzt er fort, die als Moderne die Erfahrung des Nichts besingt, sondern ein Theater zeigt er, über das sich sagen läßt: es besitzt, wenn, nur einen Vertrag mit sich selbst, nicht mit Bedeutung.
Denn wie Ampeln den Verkehr überwachen, damit wir Auto fahren im Namen der Polizei, so rebelliert Fabre gegen ein Theater, das nur im Namen für etwas Bedeutung hat, das außerhalb von Theater existiert. Theater gegen ein Theater im Namen des Dargestellten. Fabres Bühne bleibt frei von Ampeln, Zeichen, Bedeutung durch Darstellung. Sein Theater ist eine von Sinn unverstellte Landschaft. Das Publikum mag schauen, wohin es will. Kein Akteur raubt den Blick der Zuschauer für sich. Keiner lenkt den Blick; kein Begehren, das sich vor Fabres Theater entzünden könnte.
Nach 64 Minuten läßt man sich gehen, kann man gehen, durchaus um ein Bier zu trinken und zurückzukommen. Pause nach eigenem Ermessen. Fabre erlaubt die Emanzipation des Publikums von Theater: In Die Macht der theatralischen Torheiten, durch das er 1984 bekannt wurde, und in dem jetzt entstandenen Stück Das Interview das stirbt... kündigt Fabre weder die Länge seiner Stücke an noch weist er ausdrücklich auf eine Pause nach eigenem Ermessen hin. Aber ein Narr wäre, der 280 Minuten lang in Das Interview das stirbt... alle sieben Sekunden ein Wort zu hören bekommt und alle sieben Minuten einen der insgesamt 40 Briefumschläge (*280 Minuten) zu Boden fallen sieht und still verharren würde in schüchterner Erwartung einer sich offenbarenden Mitteilung.
Jan Fabre ist, wenn, mit dem Maß der Kunstkritik zu richten. Wie Robert Wilson, Axel Mathey, Achim Freyer ist seine Herkunft die bildende Kunst. Alle Genannten haben Anteil an der Wiederbelebung des Nichtdramatischen Theaters, das Tradition hat: im russischen Konstruktivismus, im futuristischen Spektakel, im Bauhaustheater und nach dem Krieg im happening und der Performance. Seit Brecht und mit der Einführung der Theatersemiotik ist es allerdings schwer, im Theater dem pädagogischen Bedeuten neu zu entkommen. Die parellele Entwicklung im postmodern dance, mit Merce Cunningham, fand auch nur allmählich ein Publikum und hat Erfolg derzeit erst wieder in den Frankfurter Choreographien von William Forsythe. Forsythe über Fabre: „Seine Umschreibung der theatralischen Gewohnheiten offenbart eine rigorose Ästhetik der Vermeidung - eine Vermeidung jeglicher Form ideologischer Korruption, die alle anderen Theater außer seinem beherrscht.“ Darum geht es Fabre: antiideologisch, antiinstrumentell kann Theater nur sein, wie in der Modernen Malerei, wenn sie auf Darstellung verzichtet.
1983 entstand Fabres erste größere Performance, Das Theater, wie es erwartbar und vorhersehbar war. Der Titel ist programmatisch. Mit zäher Langsamkeit beginnt in jedem Stück erneut eine noch im letzten disziplinierte Choreographie, auf die das naheliegende Wort „Minimalismus“ nicht trifft. Die Langsamkeit des Geschehens macht die Szene überschaubar, sie bringt den Rhythmus zum Verschwinden. Nur durch Nachzählen, durch Aufmerksamkeit auf die Schritte, die Pausen, die Formationen, ihr allmähliches Entstehen und Auflösen, läßt sich eine Struktur erkennen. Dieses steif Regelmäßige kommt purer Geometrie nahe, doch nicht so nah, daß Fabres Bühne damit oder mit anderem vergleichbar wäre. Es gibt z.B. nur mechanisch Geschehendes, worüber sich sagen ließe, hier werde Mechanisches dargestellt.
Fabre sucht im Mathematisieren ein Organisches, die Ruhe eines Karpfens, der zu keinem sinnvollen Flossenschlag in seinem Becken mehr fähig ist und dennoch seine Flossen mit erhabenener Ruhe schlägt, unablässig und unrührbar.
Ein Begrehren vor Fabres Bühne, eine Identifikation, eine berauschende Wirkung, ein Pulsieren: all das gibt es nicht. Nur in einer weiteren jetzt in Frankfurt gezeigten Uraufführung, in Der Palast um vier Uhr morgens... A.G. wird Fabres Programmatik deutlich hörbar. Es ist das unterhaltsamste Stück, im konventionellen Sinn, das rhythmischste. Musik der „Doors“ werden durch die Lautsprecher gejagt. Ein sterbendes Interview wird geführt, schweigend die Zwillinge Verwoort mit dem Mikrophon vor dem Konterfei der aufgemalten Sphinx. Papageien turteln auf der Stange im Hintergrund. Jim Morrison singt „People are strange when you are a stranger, faces look ugly“. Elf Mal wiederholt sich die Zeile. Elf Minutenn standen die Zwillinge vor der Sphinx. Sie werden durch das Mikrophon brüllen, was ihnen dieses Theater bedeutet: „Wenn wir das Gesetz der Stärke nicht beachten, werden wir zugrunde gehen.“ Der Satz geht, anders als im dramatischen Theater, das Publikum nichts an. Hier wird gesprochen von der Selbstdisziplin des Künstlers. Kunst ohne Disziplin ist Fabre nicht vorstellbar. Wirklich Unbedeutendes herzustellen, bedarf größter Disziplin. Fabre fürchtet den „Augenblick der Schwäche“, fürchtet, daß er zu Kunst nicht mehr fähig wäre und er der Anlehnung bedarf: Anlehnung an Bedeutung, die ihn ängstigt. Bedeutung zu besitzen ist wie Verschmelzen mit der Welt. Bedeutung zu produzieren ist wie Betteln um Anerkennung. Bedeutung zu diktieren, sichert Herrschaft. Aber niemals ist Bedeutung hergestellt worden, die Befriedigung verschafft. In Der Palast um vier Uhr morgens... A.G. werden sich die Zwillinge an den Schoß der Magdalena lehnen, sehnsüchtig das Ich geborgen und eigentlich verborgen halten. Das Motiv der Geborgenheit kehrt in der dritten Aufführung wieder, in Die Reinkarnation Gottes. Vier Kavaliere liegen auf der Seite. Susanne Schäfer und Ulrike Maier sprechen den Part der Domina, die Befriedigung durch Herrschaft über den jungen Mann sucht. Zwischen sieben Schlangen sitzt er, Tobias Lange, unbewegt. Die Domina erklärt den Genuß zum Ziel des Begehrens. Um Genuß zu erreichen, darf kein Affekt und kein Begehren ausgelöst werden. Die Domina inszeniert - bei Fabre - ihr Begehren und das des Mannes abgezirkelt, als vermaßstäblichte Phantasie, als mathematisierte Inszenierung: Nur das garantiert, wie bei de Sade, eine Realität, in die eine bereits realisierte Phantasie eintreten kann als Genuß, als ein bereits vollendetes Begehren, als ein absehbares Ereignis, das neue Phantasien nicht auszulöschen wünscht.
Für Fabre ist das Theater kein Ort der Einbildung, der Spannung, der Erotik oder Tragödie. Theater ist für ihn ein realer Ort, an dem reale Erschöpfung stattfindet anstelle simulierter. Sehr hörbar werden reale Ohrfeigen dem Ohrfeigentrick vorgezogen. Auch im Publikum entsteht reale Erschöpfung, einige Aggression, eine Unzahl von Widerständen. Alle Auswege, die zur Identifikation führen könnten, sind verstellt. Nur ein Ausgang bleibt offen, der, das Theater Fabres zu genießen, wenn man nichts von ihm erhofft oder erwartet. Fabre will, wie von einer Parkbank aus, ohne Bedeutung und Begehren, freischwebend die Aussicht genießen lassen. Und bloßer Genuß auch wäre, was freibleibt von ideologischer Korruption. Diese Freiheit durch Präzision hat Fabre erreicht. Dem von Erwartungshaltung erschöpften Publikum bleibt sie ungenießbar.
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