Flüchtlinge bringen Kohl zum Schreiben

■ Nachdem der Kanzler sich schriftlich an DDR-Staatsratvorsitzenden gewendet hat, wurde das Treffen zwischen DDR-Anwalt Vogel und Priesnitz abgesagt / Auseinandersetzung zwischen 'Bild‘ und Außenministerium

Bonn (afp) - Bundeskanzler Helmut Kohl hat wegen des Problems der DDR-Ausreisewilligen in Bonner Vertretungen im Ostblock einen Brief an DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker geschrieben. Das für Mittwoch vorgesehene Gespräch zwischen Staatssekretär Walter Priesnitz und dem mit humanitären Fragen betrauten DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel wurde daraufhin „einvernehmlich ausgesetzt“, weil zunächst die Entwicklung der Lage nach der Initiative des Kanzlers abgewartet werden sollte. Das Auswärtige Amt erläuterte auf Anfrage, etwa 200 Personen hätten außerhalb der Botschaft in Budapest Hilfe erhalten. Es wies zugleich einen Bericht der 'Bild'-Zeitung zurück, in dem es geheißen hatte, vier DDR -Bürger seien aus der Botschaft „hinausgeworfen“ worden. Die Lage in der geschlossenen ständigen Vertretung in Ost-Berlin und in der ebenfalls versperrten Budapester Botschaft war am Dienstag unverändert.

Nach Angaben aus Bonner Regierungskreisen wurde der Brief Kohls, über dessen Inhalt nichts zu erfahren war, am Montag abend in Ost-Berlin übergeben. Kohl habe Wert darauf gelegt, daß die Überlegungen der Bundesregierung dem SED-Politbüro zu seiner regulären Sitzung am Dienstag in Ost-Berlin bekannt seien, bestätigte Regierungssprecher Herbert Schmülling. Bereits am vergangenen Freitag hatte der Kanzler eine mündliche Botschaft an die DDR-Führung übermitteln lassen, auf die jedoch bis zum Dienstag keine Reaktion Honeckers vorlag. Die Nachricht von dem Kohl-Brief habe bei den 116 Flüchtlingen in der Bonner ständigen Vertretung in Ost-Berlin neue Hoffnung geweckt, hieß es aus westdeutschen diplomatischen Kreisen vor Ort.

200 campen

vor der Botschaft

Etwa 200 DDR-Bürger kampierten am Nachmittag vor dem deutschen Konsulat in Budapest, wo sie die weitere Entwicklung abwarten wollten, nachdem die Botschaft am Montag wegen Überlastung geschlossen worden war. Obwohl ihnen die DDR-Botschaft in Budapest nach einem ungarischen Rundfunkbericht Straffreiheit zugesichert hat, harrten sie weiter aus. Am Montag hatte der DDR-Botschafter in Budapest, Gerd Veress, mit dem ungarischen Außenminister Gyula Horn gesprochen.

Das Auswärtige Amt teilte weiter mit, neben den 181 Personen in der Budapester Botschaft sei weiteren 200 DDR -Bürgern Hilfe gewährt worden. Im Grunde gebe es keinen Unterschied zwischen den DDR-Bürgern im Gebäude und denen vor der Botschaft. Die Bundesrepublik versuche allen zu helfen. Auf Vermittlung des Amtes hätten das Rote Kreuz und der Malteser Hilfsdienst Räumlichkeiten der katholischen Kirche in der Nähe beschaffen können. Die regulären Dienste der Botschaft würden nunmehr außerhalb des Botschaftsgebäudes erledigt. Bundesbürgern, die beispielsweise ihren Paß verloren hätten, werde jetzt in einem „mobilen Büro“ geholfen: Der VW-Bus der Botschaft stehe an einem zentralen Platz der Stadt. Die Visaerteilung für Ungarn werde nun über ungarische Reisebüros erledigt.

Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, wies die Titelgeschichte der 'Bild'-Zeitung vom Dienstag als unwahr zurück. DDR-Bürgern außerhalb der Vertretung drohe keine Gefahr in Ungarn, hieß es in einer in Bonn verbreiteten Erklärung. Im konkreten Falle hätten die vier Betroffenen nach Hinweis auf die drangvolle Enge in der Botschaft, nach einem ausführlichen Beratungsgespräch und nach der Versorgung mit dem Notwendigsten, darunter auch Geld, den Garten der Botschaft freiwillig verlassen. In einer Reaktion darauf bekräftigte die Zeitung ihre Darstellung, nach der ein Beamter die vier jungen Männer, die über den Gartenzaun geklettert waren, angeschrien habe, sie sollten wieder gehen. Angeblich solle der Beamte auch damit gedroht haben, die ungarische Polizei zu rufen. Dazu sei ein Beamter des Bundesgrenzschutzes ohnehin nicht befugt, erläuterte das Auswärtige Amt auf Anfrage.

Am vergangenen Wochenende waren 471 DDR-Bürger beim Versuch ertappt worden, die ungarische Grenze illegal in Richtung Österreich zu passieren. Die ungarische Presse führte dies am Dienstag teilweise auf die enorm verstärkte Patrouillentätigkeit an der „Grünen Grenze“ zurück, wo der am 2. Mai begonnene Abbau des „eisernen Vorhangs“ fast beendet ist. Dennoch melden sich täglich viele DDR-Bürger in der Bonner Botschaft in Wien, eine exakte Zahl war aber weder in Bonn noch in Wien zu erfahren. Siehe auch Kommentar S. 8