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Alles Trug an diesem Schauspiel?

■ Peter Iden und das Frankfurter Theater

Reinhard Mohr

Der vulgäre Grobianismus der Inszenierungen von Goethes „Götz“ durch Schleef, von „Oidipus“ durch Hilsdorf, zuletzt der Aufführung von „Krieg“ des Rainald Goetz durch Laufenberg, machen den Besuch des Theaters zur Strapaze für jeden, der noch nicht ganz abgestumpft ist. Viele, die dem Frankfurter Schauspiel lange verbunden waren, beginnen, sich dieser Art von Überwältigung zu entziehen, sie gehen nicht mehr hin.“

Pünktlich zur Sommerpause ritt der Theaterkritiker der 'Frankfurter Rundschau‘, Peter Iden, eine furiose Attacke gegen das Frankfurter Schauspiel und seinen Intendanten Günther Rühle.

Unter dem unheilschwangeren Titel „Hier scheiden sich die Geister“ warf er Rühle die Verantwortung für „fanatisches Sektierertum“, „antiaufklärerische Strömungen“ und einen „Irrationalismus“ vor, der „mit den schlimmsten verwandten Tendenzen in der Gesellschaft korrespondiert“. Das „Programm für Gläubige“, Resultat einer „Selbstabschottung“, werde vom Zerfall des Ensembles und einem organisatorischen Chaos begleitet, das Frankfurts Position in der bundesdeutschen Theaterszene unschwer bestimmen lasse: „unten und hinten“.

Vier Wochen später antwortete Günther Rühle, bis 1985 Feuilleton-Chef der 'FAZ‘ und renommierter Theaterkritiker, im Stadtmagazin 'Pflasterstrand‘. Aufgabe des Theaters sei es, „auf Widerspruch und nostalgiefreier Erinnerung zu bestehen“. Es müsse Ärgernis sein dürfen, Vergessenes aufrühren. Rühle insistierte auf ein Theater, das „in den Prozeß gesellschaftlicher Selbsterkenntnis“ eingebunden ist. Gegen alle Verdrängungstendenzen gelte es, Schmerz, Leid und Gewalt als Gegenstand eines Theaters des „mächtigen Zeigens und Distanzierens“ (Schleef) mit „geradezu schmerzhaft grandiosen Bildern“ (Goetz/Laufenberg) zu behaupten.

Selten ist das Frankfurter Schauspiel derart in den Mittelpunkt einer scharfen Kontroverse geraten, die allerdings bislang „im engsten Familienkreis“ ausgetragen wird.

Gleichwohl signalisiert der Schlagabtausch, der zunächst im Sommerloch verschwand, eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Qualität und Zukunft des Frankfurter Schauspiels. Peter Iden, 'FR'-Redakteur, Theater-Dozent und Kulturpolitiker hinter den Kulissen, kommt darin die Funktion eines Prismas zu.

Besonders an den bisher vier Inszenierungen des 1976 aus der DDR gekommenen Regisseurs Einar Schleef scheiden sich die Geister - auch jenseits der Frankfurter Stadtgrenzen. 'ZEIT'-Redakteur Benjamin Henrichs etwa fühlt sich jedes Mal „peinlich deplaziert“, ernüchtert schaut er ins Antlitz von Verzückten. Dieses Theater ist ihm ungefähr so „fremd und fern wie ein Frühlingsfest der Baghwan-Jünger oder eine Aktionärsversammlung bei Mannesmann“, so die Selbstdiagnose. Am Ende läßt der Kritiker, „von Exerzierzagel Schleefs Orgien-Mysterien-Theater restlos vernichtet“, den Stift sinken und bittet den Intendanten, den „wahrscheinlich einzigen authentischen Zuschauer für Einar Schleefs Theater

-Lieber Herr Rühle, übernehmen Sie!“

Daß Schleef-Aufführungen zu einem erheblichen Teil Befriedigung „am Drill, am metrisierten Taumeln und Schreien, an der physischen Exhibition“ finden, wie die 'FAZ‘ über die Götz-Inszenierung schrieb, packte Gerhard Stadelmaier, seit August verantwortlicher Redakteur der 'FAZ‘, in der 'Stuttgarter Zeitung‘ gleich in die Überschrift: „Nachtübung der Wehrsportgruppe S.“

Selbst im 'Pflasterstrand‘, wo Schleefs Theater tapfer verteidigt wird, ließ ein Kritiker seine Wut über den Frankfurter „Brachialstil“ - diesmal in Rainald Goetz‘ „Krieg“ - freien Lauf. Bernd Feuchtner schrieb: „Hat man's nicht schon immer gewußt, daß die anderen alle Schweine sind? Der Mensch ist ein Schwein. (Grunz! d. S.) Ein Schwein ist ein Schwein ist ein Schwein. Keine Erkenntnisse. Öde Stunden, äußerste Öde, quälende Öde.“

Schleef wirkt wie ein Lackmustest: hier „Gläubige“, da „Spießer“. Eine offene Diskussion über das Frankfurter Schauspiel könnte dagegen ein Katalysator sein. Sie könnte klären helfen, inwieweit die Ästhetik des Schrecklichen nach Art des Hauses etwas anderes demonstriert als tautologische Selbstbeweise, könnte nach der Aktualität eines Theaters fragen, das auf der existentiellen Bedeutung „archaischer“ Widersprüche der Gesellschaft besteht, zugleich aber die neuen, rasant sich verändernden Formen „gesellschaftlicher Selbsterkenntnis“ (Rühle), also auch neue Widersprüche und Bewußtseinsformen, verkennt. Möglich, daß sich sowohl Idens Ethik der Aufklärung als auch Rühles Furor des Aufrührens für die Bemühungen um eine radikal zeitgenössische Ästhetik als untauglich erweisen würden.

Noch scheint kaum jemand zu dieser Debatte bereit. Für Peter Iden jedenfalls „lohnt das ganze dumpfe, dampfende Zeug keinen zweiten Gedanken“. Nach der jüngsten „Götz„ -Premiere fügte er seiner vernichtenden Kritik - „Brüllendes Elend“ - das endgültige Verdikt an: „Die realitätsblinde Überheblichkeit der Theaterleitung zeigt sich am Rande auch in der Ansetzung der Premiere auf den Abend der Halbfinalspiele im Europacup - eine Disposition, die das stundenlang schlechte derzeitige Frankfurter Theater nicht für eine Halbsekunde rechtfertigen kann.“ Im Jahre 1985 hätte er nicht im Traum an einen solchen Vergleich gedacht: „Unter den neuen Intendanten ist Rühle sicher derjenige mit dem tiefsten Vertrauen in das Aufklärungspotential des Dramas und der Bühne.“

Peter Iden, der Genscher des 'FR'-Feuilletons, ist zweifellos eine schillernde Figur. Seit vielen Jahren Redakteur der Zeitung mit dem grünen Balken, litt er schon immer unter der Enge der Redaktionsstuben. Wenn nicht Premierenbesuche in Hamburg, München oder Berlin seine Schritte in die Ferne lenkten, fand er andere Gelegenheiten, das Weite zu suchen. Während seine Kollegen, Wolfram Schütte etwa, in die innere Emigration kryptischer und verschwurbelter Spaltenschinderei flohen, stürzte Iden sich regelmäßig ins Gewimmel des wirklichen Lebens. „Gesellschaft - was ist das?“ lautete seit Oktober 1983 seine drängende Frage, an der er die 'Rundschau'-Leser regelmäßig teilhaben ließ (1986 wurde ein Buch daraus). Schon beim zweiten Anlauf verschlug es ihn nach Bad Soden im Taunus - zur Mitgliederversammlung des Fan-Clubs der „Offenbacher Kickers“. Der Ex-Sportreporter und Fußballfan Iden beschreibt den Augenblick seiner Begegnung: „So wie es manchmal, bei hohen, auf eine bestimmte Weise angeschnittenen Flanken, scheinen kann, als hinge der Ball reglos in der Luft über dem Strafraum, es ist der Augenblick der Stürmer, die sich hochschrauben, um ihn in das Tor zu rammen mit der Stirn - so hing der Mond, gleich einem riesigen gelben Fußball über dem schwarzen Wald von Bieber an dem Septemberabend, als wir uns kennenlernten.“

Dem furiosen Auftakt folgt die akribische Beobachtung: „Opfer müsse man bringen können für den Verein, fordert ein Fünfzigjähriger, als der 'gesellige Teil‘ des Abends schon begonnen hat und Fotoalben herumgereicht werden, deren Bilder Szenen von den Festen des Fan-Clubs festhalten, es scheint, als sei viel Bier getrunken worden bei diesen Anlässen.“

Auch dies ein Menetekel der Zeit. Iden schließt: „Die Mutlosigkeit der Epoche ist es, die die Fan-Clubs gebiert: als Ausdruck gerade jenes Defizits, dem sie scheinbar widersprechen.“

Widerspruch, Vergeblichkeit, Hoffnung - Topoi des Feuilletonisten Iden, die einen Fluchtpunkt in sich bergen: Aufklärung. Aufklärung am kleinsten und am größten Ort, am geringsten und am bedeutendsten Gegenstand, zu jeder Zeit. Peter Iden war der erste Frankfurter, der den „Mann am Scheffeleck“ entdeckt und in einer Elegie vor der Zeit besungen hat, einen Wachmann, der jeden Abend bei Anbruch der Dunkelheit vor einem U-Bahn-Schacht Posten bezieht, um zu verhindern, daß betrunkene Autofahrer die Schienentrasse für eine Straße halten. Die Sinnlosigkeit des Jobs - wenn der Fall einträte, wäre der Mann am Scheffeleck erst ein hilfloser, dann ein toter Mann - verwandelte der Chronist Iden in empfindsame Formulierungen, für die noch kein Maß gefunden scheint, es sei denn die Maßeinheit Iden.

Neue Maßstäbe setzte P.I. (Das Kürzel gehört zur 'FR‘ wie der grüne Balken), als er von außergewöhnlichem Ungemach in Berlin berichtete: von einer strahlenden Schaubühnen -Aufführung ins Tegeler Flughafengebäude eilend, prallte er mit dem Unwesen der Postmoderne zusammen, der Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand. Wegen Nebel hatte sein Flug Verspätung, die nicht enden wollte. Drangvolle Enge im Warteraum, stickige Luft, Kindergeschrei und dann noch dies: jemand schüttete Saft auf - ausgerechnet - sein Hosenbein. Der Gepeinigte ergriff wilde Flucht, und mit dem Zug übers öd-graue DDR-Land erreichte er schließlich, ermattet, aber befreit, Frankfurt am Main.

Stete Unrast trieb ihn bald wieder hinaus zu einer „Wallfahrt in die Irre“, nach Kleve, Geburtsort von Joseph Beuys. Dort jedoch fand sich kein Altar und kein Geheimnis. Kleve „scheint eine einzige Fußgängerzone“. Ein plötzlicher Entschluß reift. Auf nach Arnheim, wo Reste einer Beuys -Installation aufbewahrt sind. Pech auch hier. Das Museum hat schon geschlossen. Schlimmer noch: „Auf einer Wiese in der Nähe grasen (nein, nicht Hirsche, die Beuys oft zum Motiv wurden), schwer zu glauben, aber kein Zweifel: mehrere richtige Dromedare, Langhals, Höcker und alles. Sie stieren herüber. - Rascher Abgang des Pilgers. (Ende einer Dienstfahrt) P.I.“ 'FR'-Leser erkennen sich wieder. Früher durften sie das selber schreiben - in der Rubrik „Aus dem Urlaubskoffer“.

Peter Idens Bekenntnisse und Beobachtungen lassen nichts aus, auch nicht tiefsinnelnde Peinlichkeiten und Betroffenenberichte, die er überall sonst als lächerlichen Exhibitionismus brandmarken würde. Zwischen Kleve und Kalifornien (von wo aus er die amerikanische Kunstszene überblickt) wird Aufklärung plötzlich zur narzißtischen Nabelschau, zum Terrain des „ceterum censeo“: die Reflexion wird ubiquitär, leidet schließlich an jener Allgegenwärtigkeit, die schnell in die bloße Simulation von Nachdenklichkeit übergeht.

Was dem Diplomaten der Blitzbesuch, ist dem Feuilletonisten die schnelle Glosse - passiert, notiert, frisch erlebt, schon geklebt, das hingehauene Stück Welt. Der Versuch, dem eigenen Blick, dem eigenen Gedanken Weltgeltung zu verschaffen, ist eine praktische Konsequenz aus der Einsicht, daß übergreifende Ansprüche auf Wahrheit und Moral von der Wirklichkeit regelmäßig zurückgewiesen werden. Wenn es gleichgültig geworden ist, ob das Ganze nun das Wahre oder das Unwahre ist, wenn nirgends mehr der Weltgeist weht, dann scheint dem beobachtenden Ich der Blick aufs „Ganze“ zuzustehen (gerade weil es das Partikulare, das Signifikante wahrnimmt); sein Geist schließlich weht, wo er/Ich will.

Die Aufhebung totalitätsorientierter Wahrnehmungs- und Denkraster hat eine scharfe Amibvalenz zur Folge: einerseits fördert sie die Konkretion der Analyse, andererseits erlaubt sie das Schwadronieren im Namen vorgeblich authentischer Erkenntnis, die häufig nur hohler Selbstbespiegelung Vorschub leistet. In der Ambivalenz von rettender Vernunft und rasender Sehnsucht sind Peter Iden und das Frankfurter Schauspiel kongeniale Partner.

Die Texte Peter Idens spiegeln über die Jahre die Entwicklung der je eigenen Idiosynkrasien - des Theaters wie seines Kritikers. Teils parallelen, teils gegenläufigen Wellenbewegungen gleich zeigt sich das Schwanken zwischen Konvention und Konvulsion, Perfektion und Provokation, zwischen bürgerlicher Aufklärungskultur und antibürgerlicher Irritation.

„Ein Theaterabend wie ein Schlag ins Kontor dünnblütiger ästhetischer Übereinkünfte und fadenscheiniger deutscher Geschichtsdebatten“ - so lobte Peter Iden eine Inszenierung des Regisseurs Dietrich Hilsdorf im Februar 1987. Überschwenglich feierte Iden Hilsdorf (der 1985 die umkämpfte, von Iden befürwortete Uraufführung von Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ inszeniert hatte) und blickte gespannt darauf, „was diesen hochbegabten Szeniker besetzt und verfolgt, an ihm zerrt und reißt, ihn peinigt und antreibt: die obsessive Fixierung auf dunkelste Menschengründe, die Triebkräfte des Sexuellen, die Inklination zu manischem Wahn, das immense Zerstörungspotential, das vor dem Eigensten nicht haltmacht“.

Ein dreiviertel Jahr später ist aus der Begabung des „großen Pathetikers“ Hilsdorf die „naivste Willkür“ geworden, das „strotzendste Selbstbewußtsein von Regisseuren, die sich in Kraftakten narkotisieren, in der Hoffnung, einen 'Stil‘ irgendwann schon zu gewinnen durch die schiere Selbstbehauptung mal für mal“.

Iden selbst ist ein Sucher, der sich zuweilen vergreift, einer, der das Theater liebt, also ständig hin und her schwankt zwischen Enthusiasmus und Enttäuschung darüber, daß jene zeitgenössische Ästhetik schwer zu finden ist, die „Warnbilder und Visionen anderer Lebensmöglichkeiten als der augenblicklichen entwerfen“ könnte, wie er 1988 formulierte. Stattdessen „haben wir heute den ausgreifenden Pluralismus der Postmoderne, heute dies und morgen etwas ganz anderes“. Eine „große zynische Unseriosität“ sei in vielen Stadttheatern ausgebrochen: Ohne kompetente Leitung der „einstmals ersten Häuser“ habe sich die Theaterkrise als Dauerzustand etabliert: „Die Apparate scheinen zu taumeln, bisweilen am Rande des Zusammenbruchs.“

Das gilt gewiß für Frankfurt, dessen städtische Bühnen Schauspiel, Oper und Ballett - jährlich mit etwa 100 Millionen Mark subventioniert werden. Idens Rolle in der hochsubventionierten Kulturszene Frankfurts ist zwiespältig

-er ist Kritiker und Machthaber. Schon im November 1969 wurde im Foyer der Städtischen Bühnen ein vom damaligen Generalintendanten unterzeichnetes Flugblatt verteilt, in dem gegen „zum Teil einseitig informierende Berichte“ über das Schauspiel zu Felde gezogen wurde. Besonders hervorgehoben waren Zitate von Peter Iden, der kurz zuvor noch vom Kulturdezernenten als neuer Chefdramaturg ins Spiel gebracht worden war.

Iden blieb Kritiker - mit vielen Nebenbeschäftigungen.

Zusammen mit Karlheinz Braun organisierte er von 1966-1971 die „Experimenta“, war hartnäckiger Wegbereiter und Fast -Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, das nächstes Jahr eröffnet wird, leitet die Schauspiel-Abteilung der Musikhochschule, hält Preisreden und Vorträge, schreibt Bücher und gibt Ratschläge. „Ämterhäufung“ ist noch der harmloseste Vorwurf, der ihm gemacht wird. Gutgehaßt ist er vor allem bei den Opfern seiner gefürchteten Kampagnen, in denen er treffende Kritik (die andere unterlassen) mit eigensinnigen Manövern vermischt: bei Theaterleuten, Schauspielern, Museumsdirektoren.

Auffallend ist eine gewisse konjunkturelle Berechenbarkeit: Was oder wen Peter Iden einst auf den Thron hob, stößt er mit drohlicher Gewißheit eines Tages wieder in den Staub der Bedeutungslosigkeit. Diese Art der Selbstinszenierung als Frankfurts Theater-Zampano erlebten etwa beim traditionsreichen „Theater am Turm“ (TAT) nacheinander Rainer Werner Fassbinder, das „linksradikale“ Ensemble um Cornelia Niemann und Hermann Treusch, Peter Hahn und Christoph Vitali - letzterer selbst ein Frankfurter Kulturkönig und Teil der großen SPD/CDU-Theater am Turm/ OFF -TAT/ Summertime-Festival/ Schirn-Mittelstandskultur -Koalition (die Seilschaft der etablierten „Alternativ„ -Szene), zu der auch Iden seine Kontakte unterhält. Der atemberaubende Parallelslalom unter dialektischen Wettkampfbedingungen liefert P.I. sich allerdings mit Schauspiel-Intendant Rühle. Iden selbst hatte bei der Entscheidung des Kulturdezernenten für Rühle diskret mitgewirkt. Nun, vier Jahre später, appelliert er an die Klugheit des Intendanten: „Die Hoffnung ist jetzt, daß er allmählich zu sehen beginnt, was er in Frankfurt anrichtet.“

Rühle ist ein eher nachdenklicher, als Chef mehrerer hundert Angestellter überforderter Intendant, der der Paralysierung des Theater-Apparats wenig entgegensetzen kann - hartnäckig und stur wie Iden ist er allerdings, wenn es um „die Sache“ geht: Theater als Ort, wo die Triebkräfte der Gesellschaft, kollektive Wünsche, individuelle Ängste und existentielle Brüche auf einzigartige Weise dargestellt werden können. Der dem Theater inhärente Extremismus - nicht ohne Grund findet dort noch ein Vokabular der Radikalität und Obsession Anklang, das zumindest im intellektuellen Teil der Gesellschaft inzwischen an Attraktivität eingebüßt hat führt bei beiden zu spezifischen Überdehnungen: zu Idens Gestus des Einflußreichen, dessen Verantwortung auch vor dem „Mann am Scheffeleck“ nicht haltmacht, und zu Rühles später Fixierung auf Schmerz und Tod - „wie nur ein wahrer Schreibtischmensch ist er von den Kunst-Gewalttätern bezaubert“ (Henrichs). Beim Theatermacher ist diese Tendenz unmittelbar folgenreich. In vielen Inszenierungen bricht sich ein Drang nach Grundsätzlichem Bahn, dessen Ästhetik des Widerstands gegen die Kultur als Reparaturbetrieb für die Modernisierungsschäden der „Zweidrittel-Gesellschaft“ ankämpft, die das Geschönte, Verdeckte und Verdrängte aufreißen will. Dabei geraten die Modernisierungsschäden selbst fast völlig aus dem Blick. Im rasanten Wandel der letzten zehn Jahre hat sich das Schöne längst mit dem Schrecklichen, das Oberflächliche mit dem Abgründigen, Geschichtsbewußtsein mit Zukunftslosigkeit derart vermengt, daß die alten - dialektischen oder dichotomischen - Muster nicht mehr passen. Sie sind viel zu grob und ungenau, wenn nicht gänzlich obsolet geworden.

Weder Einar Schleef als Wunderwaffe gegen die Mittelstandskultur noch der ostinate Ruf nach „der Individualität“, dem „Schicksal des Subjekts“ sind die richtigen Mittel, um das Frankfurter Schauspiel wieder Anschluß an das Niveau der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihre - nicht nur - ästhetischen Herausforderungen finden zu lassen. Daß viele Intellektuelle in Frankfurt lieber ins Kino als ins Theater gehen, sollte jedenfalls nicht denen in die Hände spielen, die ganz anderes im Sinne haben, wenn sie das Theater kritisieren.

Der neue „Generalmanager“ der Städtischen Bühnen, Schwab, von Kulturdezernent Hilmar Hoffmann (SPD) noch vor Amtsantritt des rot-grünen Magistrats auf den Hochsitz über dem Kompetenzengerangel der Intendanten, technischen und Verwaltungsdirektoren beordert, trug Anfang Juli vor der „Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer“ seine Krisen -Diagnose vor: In Frankfurt habe man „den neuen Trend zum Entertainment nicht erkannt“.

Von Günther Rühle war in den Theaterferien dazu kein Kommentar zu vernehmen. Peter Iden seinerseits reiste nach Erscheinen seiner Polemik nach Italien, wo er die Reisespesen mit einem Bericht über die Algenpest und die Verwüstung des Markusplatzes in Venedig durch 200.000 Besucher eines Pink-Floyd-Konzertes abgolt. Kurz darauf tauchte er in New York auf, danach in Los Angeles, dem Ort, an dem man „ineins lebt mit der Epoche am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts: kalifornische Spätantike“. Zum Schluß seiner Reportage unter dem Titel „Alles Trug an diesem Schauspiel?“ zitierte er den „lange verkannten“ amerikanischen Lyriker Robert Creeley: „In der Bewegung, werden wir uns bewegen, und dann: aufhören.“

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