: PREUSSISCHER LUXUS
■ Die vorläufig letzte Ausstellung im Kupferstichkabinett
Georg Baselitz wird wohl nie die Ehre haben, in einem Fernseh-Quiz die Lösung auf die 10.000-Mark-Frage zu sein, denn kaum ein anderer zeitgenössischer Maler ist so leicht zu identifizieren wie er: Alles steht immer auf dem Kopf auch in einer Folge von 16 Holzschnitten, Teil der „Graphik der Moderne“ im Kupferstichkabinett. Da man es zur Vermeidung handfester Konflikte mit dem Wachpersonal der Stiftung Preussischer Kulturbesitz nicht wagen darf, die Bilder von der Wand zu nehmen und umzudrehen, wird kaum ein Betrachter der Versuchung widerstehen, wenigstens den eigenen Rumpf zu neigen, um verkehrtherum auf die Blätter zu schielen. Daß Baselitz nicht auf die gymnastische Ertüchtigung der Kunstfreunde mit seinem Trick zielt, sondern die Bedeutung des Bildes vom wiedererkennbaren Gegenstand lösen will, ist bekannt. Doch bedient er sich in den Holzschnitten einiger klassischer Motive des Genres Veronika mit Schweißtuch, nackte Frau mit einem Kind auf dem Schoß - die die urtümliche Ausdruckskraft der weggeschabten Stellen im Holz für die Darstellung elementarer Lebenssituationen nutzen, sodaß man den Verdacht nicht los wird, es mit einem verkappten Expressionisten zu tun zu haben. Um 180Grad muß er alles drehen, um seine theoretische Einsicht in die Fragwürdigkeit des Abbildens praktisch einzulösen.
Zu den Künstlern, die sich von einer expressiven gegenständlichen Bildsprache lösten, um informelle Bildstrukturen und -schriften zu entwickeln, gehört der Franzose Jean Fautrier. In den breiten, weichen Kreideschwüngen und harten Federstrichen seiner Lithographien aus der Mappe „Lespugue“ (1942) lassen sich zwar Frauenakte entdecken, doch der gelöste Bewegungsreichtum der Linien und die anschmiegsame Weichheit der Formen vermitteln eine fast schon körperliche Nähe. Anstatt die Bilder nur äußerlich zu betrachten, fühlt man sich in ihre unversehrte Sinnlichkeit direkt hineinversetzt. Ihr unbefangener Glückszustand bedeutet für Fautrier 1942 wahrscheinlich auch eine Utopie, der kein konkretes Gesicht zu geben war. Ein Jahr später zeichnete er in noch abstrakterer Auflösung verwundbare, in eine Leere versetzte Köpfe, die er „Otages“ (Geiseln) nannte, damit auf die Besetzung Frankreich durch die Nationalsozialisten verweisend.
Als eine Kettenreaktion, bei der aus jeder Destruktion zugleich etwas Neues entsteht, hat Frank Stella seine „Illustrations after El Lissitzky's Had Gadya“ (1982 - 1984) gestaltet. Das jiddische Lied „Had Gadya“ erzählt von einer Ziege, die von der Katze gefressen wird, die der Hund beißt, den der Stock schlägt, den ein Feuer verbrennt, das ein Wasser löscht, das ein Ochse trinkt, den ein Fleischer schlachtet, den der Todesengel tötet, der selbst von Gott vernichtet wird. Stella bezieht sich in seinem Verweis auf El Lissitzky nicht nur auf dessen Illustrationen von 1919, sondrn auch auf dessen Suche nach einer „Umsteigestation von Malerei nach Architektur“. Das sich ständig wandelnde Bild im Zyklus „Had Gadya“ bezieht seinen Motor zerstörerischer Energie aus einer Spirale der Gewalt, mit der immer von Neuem eine Form aus den tieferen Bildebenen an die Oberfläche drängt und sie durchstößt, die knallige Zersplitterung stets auch genießend. Zersprengte Säulen, geriffelte spitze Kegel, gewellte Ebenen, gezackte Bänder und Spiralgehäuse nehmen den Platz der Protagonisten im berauschend bunten Kampfgetümmel ein, sodaß die abstrakten Objekte wie die unidentifizierten Flugkörper in einem Science-Fiction-Film erstaunlich konkret ihre theatralischen Rollen spielen. Stellas Collagen haben die Plastizität von aufklappbaren Pappkulissen oder medizinischen Illustrationen, in denen man sich zu immer tieferen Schichten des Körpers durchblättert.
Lithographie, Siebdruck, Zeichnungen, Linolschnitt Stellas Collagen allein belegen schon, daß die Grenzen des „Kupferstiches“ und der Druckgraphik schon längst in der Sammlung des Kabinetts überwunden sind. Die Bedeutung der graphischen Techniken als reproduzierende Medien nimmt im 20.Jahrhundert ab. Doch sie nicht bloß als historische Formen oder Studien von sekundärem Rang zu begreifen, ist vor allem das Anliegen des Museums, das deshalb in seinen Ausstellungen zur Moderne Experimente und Grenzüberschreitungen der Techniken berücksichtigte.
Stellas „Illustrations“ kaufte die Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten für das Kupferstichkabinett. Für die Holzschnitte von Baselitz kamen anonyme Berliner Kunstfreunde auf; Fautrier und Lithographien von Karl Schmidt-Rotluff wurden mit Mitteln der Pressestiftung 'Tagesspiegel‘ finanziert. Zudem werden noch die „Cantos“ von Barnett Newman vorgestellt, die das Kupferstichkabinett selbst erwarb. Alexander Dückers, Direktor des Kabinetts, wollte mit dieser Auswahl auch beispielhaft die Ereignisse staatlicher und privater Förderung zusammenfassen.
1992 soll das Kupferstichkabinett einen eigenen Museumsbau am Kemperplatz beziehen, der vor allem mehr Raum für die Archivierung und Bearbeitung des Sammlungsbestandes bietet. Bis zum Umzug ist diese maßgeschneiderte Vorstellung der fünf Werkgruppen leider die letzte Ausstellung des Kabinetts in Dahlem. Wenn die Atmosphäre dort auch immer ein wenig verschlafen und bildungsbürgerlich wirkte und man sich eher von Klavierlehrerinnen und Spezialisten der Renaissance umgeben wähnte, so war dies doch weniger anstrengend und nervig als der eitele Yuppie-Auftrieb in anderen Museen, der die zeitgenössische Kunstkulisse als Spiegel seiner selbst braucht. Ob es sich um Karikaturen des 18.Jahrhunderts, englische Landschaften des 19.Jahrhunderts, den Höllenzyklus von Max Beckmann oder italienische Graphik von den Futuristen bis heute handelte - immer konnte man sicher sein, nicht von einer ermüdenden Fülle des Materials überfordert zu werden. Das Medium der Graphik selbst verlangt die konzentrierte Form, ein auf Punkt und Linie bringen der Gestaltung. So wie die graphischen Formate ihren Betrachter nicht klein machen, ließen ihm auch die Ausstellungen immer genug Raum.
Weiterhin geöffnet bleibt der Dahlemer Studiensaal: Dort kann sich jeder gewünschte und vorhandene Werke von Dürer bis Beuys einzeln vorlegen lassen, zu studieren oft auf eigens dafür konstruierten Gestellen, man selbst und die Kunst von strengen Augen bewacht. Kugelschreiber, Himbeerbonbons, Zigaretten, Klebfinger verboten; die Kunstbetrachtung dort umweht ein Hauch von klösterlichen Exerzitien. Doch verglichen mit dem Discountbetrieb der großen Ausstellungen erlebt man diese Dienstleistung als einen anachronistischen Luxus.
Katrin Bettina Müller
„Graphik der Moderne“. Neuerworbene Werkgruppen im Kupferstichkabinett, bis 1.Oktober.
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