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Flucht nach vorn

Für die DDR gibt es keine risikolose Alternative: Grenzen dicht oder Reformbeginn  ■ K O M M E N T A R E

Die Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze markiert nicht deshalb eine neue Qualität, weil diesmal mehrere hundert DDR-Bürger auf einen Schwung buchstäblich in den Westen stürzten. Die neue Qualität deutet sich - hinter der spektakulären Aktion - im Verhalten der beteiligten Staaten an. Die ungarischen Behörden waren ebenso wie die bundesdeutschen im voraus informiert. Auch wenn organisatorische Hilfestellung bei dem massenhaften Systemwechsel eher unwahrscheinlich ist, akzeptiert wurde er allemal.

Daß Ungarn den Grenzübertritt einfach tolerierte, ist dabei wesentlich aussagekräftiger als die im Fernsehen halbherzig nachgeschobene Verurteilung der Aktion. Trotz der Aussicht auf Touristenstopp aus der DDR oder drohende Exportschwierigkeiten für die „Ikarusse“ nähert sich die ungarische Haltung langsam, aber sicher den Verpflichtungen an, die das Land etwa mit der Unterzeichnung der KSZE -Schlußakte eingegangen ist. Die lange gehaltene Sprachregelung, es handele sich bei der Flucht nach Österreich um ein deutsch-deutsches Problem, ist nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Denn es liegt allein in ungarischer Kompetenz, ob DDR-Touristen über die CSSR ausreisen müssen - oder über Österreich dürfen. Nachdem die ungarische Praxis immer mehr auf die Anerkennung internationaler Normen und damit zwangsläufig auf Düpierung der DDR hinausläuft, sollte sich die Führung auch für die Bereinigung der bilateralen Rechtslage entscheiden: Wenn jetzt schon ungarische Grenzbeamte den Fluchtwilligen den Weg in den Westen zeigen, ist die Kündigung des Abkommens, mit dem sich Ungarn 1968 als Grenzwächter der DDR verpflichtet hat, nur noch ein formaler, wiewohl klärender Akt.

Doch mit oder ohne formelle Ratifizierung der neu -ungarischen Haltung: Für die DDR wächst der Entscheidungsdruck, während sich ihr Handlungsspielraum fast täglich verkleinert. Kein Kunststück, vorherzusagen, daß die über tausend Fluchtwilligen, die sich im Sog der Massenaktion vom Wochenende auf den Weg ins Grenzgebiet machten, in wenigen Tagen im Sonderzug nach Frankfurt sitzen. Mit dem bevorstehenden Machtwechsel in Polen ist zudem das nächste Schlupfloch via Ostsee schon absehbar. Selbst die CSSR mit ihrer weitgehend ungesicherten grünen Grenze nach Polen ist - trotz ideologischem Schulterschluß mit Ost-Berlin - bald keine Garantie mehr für vollzählige Touristenrückmeldung.

Ungeachtet sich solcherart verschlechternder „Rahmenbedingungen“ bleibt die SED-Führung bei ihrer starren Haltung im Verhandlungspoker um die Botschaftsbesetzer. Während täglich Hunderte über die Grenze kommen, hält die Führung die Besetzer im Lande, als ließe sich mit der harten Pose ihr „Sozialismus in den Farben der DDR“ über die Krise retten. Doch die strategische Konsequenz der kleinlichen Kompromißlosigkeit wäre die Parole „Schotten dicht“. Aber vor diesem martialischen Schritt schreckt die Führung zurück, weil sie am sich aufladenden Unmut im Lande ebensowenig interessiert sein kann wie an der massenhaften Entlassung ihrer Untertanen. Doch weil die DDR heute über keine risikolose Alternative verfügt, bleibt ihr nur die Flucht nach vorn: Die Freizügigkeit als Signal für den überfälligen Reformbeginn, den mühsamen Weg zu konkurrenzfähigen Lebensverhältnissen.

Matthias Geis

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