piwik no script img

Tod bei DDR-Flucht

DDR-Bürger bei Handgemenge mit ungarischen Grenzern erschossen / Kohl: Keine Flucht von deutschem Boden / Kanzler bietet Treffen mit Honecker an  ■  Aus Ost/West Gast/Kinzinger

Berlin (taz) -Während Bundeskanzler Kohl gestern zum ersten Mal nach seinem Urlaub öffentlich über das Problem der DDR -Aussiedler räsonierte, ging deren Massenflucht über die ungarisch-österreichische Grenze unvermindert weiter. Die BRD-Botschaft in Wien zählte allein am Montag 610 Flüchtlinge, die die Bonner Vertretung mit Fahrkarten fürs Bundesgebiet ausstattete. In der Nacht auf Dienstag haben nach Angaben österreichischer Polizeibehörden weitere 202 Personen die ungarisch-österreichische Grenze im Burgenland überquert.

Zu einem tragischen Unfall kam es nach Angaben der ungarischen Nahrichtenagentur 'mti‘ am späten Montag abend. Ein DDR-Flüchtling wurde nur wenige Meter vor der Grenze erschossen. Zwei ungarische Grenzsoldaten haben danach versucht, eine dreiköpfige Familie an der Flucht zu hindern. Dabei sei es zu einem Handgemenge gekommen, in dessen Verlauf sich ein Schuß aus der ungesicherten Maschinenpistole eines Grenzers löste und den DDR-Bürger tödlich verletzte. Sofort eingeleitete Rettungsmaßnahmen kamen zu spät.

Bundeskanzler Kohl hat gestern die DDR zu inneren Reformen nach dem Vorbild Polens, der Sowjetunion und Ungarns aufgefordert. Gleichzeitig erklärte der Bonner Regierungschef seine Bereitschaft zu einem Treffen mit DDR -Staatschef Erich Honecker, „wenn damit weitreichende und dauerhafte Erleichterungen für die Menschen erreicht werden können“. Das Fehlen jeder Hoffnung auf eine Veränderung bringe die Menschen dazu, der DDR den Rücken zu kehren. Dies gelte um so mehr, als ringsum in Osteuropa tiefgreifende Veränderungen im Gang seien, die den Menschen neue Freiheiten brächten. Fortsetzung auf Seite 2

FORTSETZUNG VON SEITE 1

Die DDR dürfe sich angesichts der derzeitigen Fluchtwelle diesen Entwicklungen nicht mehr verschließen. Bonn wünsche keine „Konfrontation“ und beabsichtige keine Destabilisierung der DDR, aber eine Fortdauer des gegenwärtigen Zustandes könnte die beiderseitigen Beziehungen erheblich belasten.

Bundeskanzler Helmut Kohl, der die Anerkennung einer DDR -Staatsbürgerschaft erneut kategorisch ausschloß, prägte auf der gestrigen Pressekonferenz in der ihm eigenen Art einen weiteren geschichtsträchtigen Satz: „Von deutschem Boden dürfen auch keine Flüchtlingsströme mehr ausgehen“.

Inzwischen werden die Fluchtmethoden der DDR-Müden immer abenteuerlicher. Als jüngstes Beispiel

nannte ein ungarischer Grenzoffizier DDR-Autofahrer, die an ihren Wagen ungarische Nummernschilder anbringen. Wenn sie an den Grenzkontrollen dann zum Vorzeigen des Passes augefordert würden, träten sie voll aufs Gaspedal, um möglichst schnell auf österreichisches Gebiet zu gelangen.

Der FDP-Abgeordnete Olaf Feldmann berichtete nach einem zweitägigen Aufenthalt in Budapest, daß die ungarische Regierung zum ersten Oktober den Strafrahmen für den illegalen Grenzübertritt einschränken will. Wer unerlaubt die Grenze überschreitet macht sich dann nicht mehr eines „Verbrechens“, sondern nur eines „Vergehens“ schuldig. Die Volksrepublik Ungarn wäre damit nicht mehr entsprechend einem zwischenstaatlichen Abkommen mit der DDR verpflichet, die DDR-Aussteiger in ihr Herkunftsland abzuschieben. Die Nachrichtenagentur 'mti‘ berich

tete, daß ungarische Grenzsoldaten seit Jahresbeginn etwa 15.000 Personen am illegalen Grenzübertritt gehindert hätten. 7.000 davon wären DDR-Bürger gewesen.

Der „Adac“ will jetzt dafür sorgen, daß die in Ungarn zurückgelassenen PKWs in die Bundesrepublik geholt werden. Der ungarische Zoll hat mittlerweile über hundert verlassene Trabis auf eine Wiese nahe der Grenzstation Kohaza abgestellt. Die Münchner Autolobbyisten nannten als Voraussetzung, daß sich die Bonner und die Budapester Regierung auf eine unbürokratische Abwicklung der „Rückholaktion“ einigen.

Trotz hermetischer Abriegelung der ständigen Vertretung in Ost-Berlin gelang es gestern vormittag zwei DDR-Bürgern, in die bundesdeutsche Mission einzudringen. Sie klopften an der separat gelegenen Tür der Rechtsabteilung und schoben den verdutzten Beamten, der die Tür öffnete, zur Seite. Damit hat

sich die Zahl der Ausreisewilligen in der BRD-Mission auf 118 erhöht. Das wurde gestern aus Kreisen der ständigen Vertretung bekannt. Fast zeitgleich besuchte erstmals ein westdeutscher Politiker die Flüchtlinge in der Hannoverschen Straße. Hamburgs zweiter Bürgermeister Ingo von Münch (FDP) hielt sich etwa anderthalb Stunden in der ständigen Vertretung auf und sprach dabei mit vier ÄrztInnen. Das Leben der ausreisewilligen DDR-Bürger spielt sich bei hochsommerlichem Wetter auf dem Hof des Gebäudekomplexes ab. Die Flüchtlinge treiben Sport, lesen Bücher und westdeutsche Zeitungen. Diese Lektüre zieht bei den DDR-Bürgern Ernüchterung nach sich. Verwundert und verärgert äußern sich Besetzer über Presseberichte, die von der gar nicht so freundlichen Aufnahme ausgereister DDR-Bürger durch die bundesrepublikanische Bevölkerung handelt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen