piwik no script img

Existenzangst

Was sich mit der Reformbewegung in Osteuropa vorbereitete, bringt die Ausreisekrise jetzt offen zutage: Die SED bangt um die Eigenstaatlichkeit ihrer Republik  ■ K O M M E N T A R E

Das störrische Selbstbewußtsein, das die SED noch bis in die jüngste Zeit zur Schau stellte, wenn es um die Ablehnung osteuropäischer Reform- und Demokratisierungsmodelle ging, ist passe. Nicht, daß die SED jetzt unter dem Eindruck der Ausreisewelle endlich Anschlußbemühungen an die osteuropäische Entwicklung signalisiere. Doch die Souveränität, mit der die Reformansätze bislang vom Tisch gewischt wurden, weicht zusehends einer hektisch -verkrampften Rechtfertigungskampagne. Flapsige Richtigstellungen wie Hagers legendäre Tapeziereranalogie gehören einer Zeit an, als die Durchsetzungsfähigkeit Gorbatschows mehr als zweifelhaft schien, in Polen die Kommunisten noch unangefochten - wenn auch schlecht regierten, und in Ungarn das Grenzregime noch im realsozialistischen Sinne funktionierte. Die aktuellen Einkreisungsängste zeitigen andere Formen: seitenlange Monologe über den richtigen Weg zum Sozialismus, hinter deren Lustlosigkeit die Verfasser ihre Desillusionierung nur noch schwer verbergen können oder Leserbriefkampagnen, in denen sich der realsozialistische Menschenverstand gegen die „hysterische Hetzkampagne“ aus dem Westen richtet. Mit den Schüssen in Wallershausen witterten die Propagandisten der Stagnation kurzzeitig noch einmal die Chance zur ideologischen Gegenoffensive. Die Schüsse mußten - im Umkehrschluß - als Beweis für die humane Qualität der DDR -Gesellschaft herhalten.

Einer zumindest hat klaren Kopf behalten. Weit entfernt davon, die aktuelle Misere des Arbeiter- und Bauernstaates ins Rosige umzudeuten, markiert Otto Reinhold, renommierter Parteitheoretiker, die letzte Verteidigungslinie der DDR -eigenen Sozialismusvariante: die bloße Existenz des zweiten deutschen Staates. Denn der - so Reinhold in schonungsloser Offenheit - wäre schlicht überflüssig, wenn die DDR auf den osteuropäischen Mainstream einschwenken würde.

Es spricht für Reinholds Realitätssinn, daß er erst gar nicht mehr versucht, die Überlegenheit des Systems nachzuweisen. Unprätentiös bricht er mit der jahrzehntelang betriebenen Sozialismus-Apologie. Reinhold zu Ende gedacht bedeutet, daß das derzeitige System aus seinen Erfolgen oder Perspektiven heraus keine Existenzberechtigung mehr ableiten kann. Damit befindet er sich auf der Höhe der osteuropäischen Reformdiskussion. Doch während dort der Systemumbau in Angriff genommen wird, verändert die SED nur die Begründung für ihren „bewährten Kurs“: Die DDR an sich, nicht die Lebensverhältnisse, die sie ihren Bürgern bietet, dient jetzt als argumentative Rückzugsbastion.

Man muß sich die hartnäckigen Bemühungen der SED bei der Etablierung einer DDR-spezifischen nationalen Identität in Erinnerung rufen, um das ganze Ausmaß des Defätismus ermessen zu können, der in Reinholds Legitimation des DDR -Sozialismus mitschwingt: das Ringen um internationale Anerkennung, die Theorie von der eigenständigen sozialistischen Nation, der Zugriff auf die ganze deutsche Nationalgeschichte, den sich die SED nach ihrer jahrzehntelangen selektiven Wahrnehmung der revolutionären Traditionslinien leisten zu können glaubte. Am Ende dieses Emanzipationskurses aus dem Schatten der BRD, der mit dem Hissen der DDR-Flagge beim Honecker-Besuch in Bonn seinen sinnfälligen Höhepunkt fand, steht jetzt Reinholds Offenbarungseid. Doch gerade der Stagnationskurs, den er zur Existenzsicherung der DDR empfiehlt, ist mit seinen spektakulären Folgen der Ansatzpunkt für die jüngsten Wiedervereinigungsträume im Westen. Denen kann die DDR nur mit dem Risiko der Reform begegnen, in deren Perspektive konkurrenzfähige Lebensverhältnisse liegen. Aus dem jahrzehntelang propagierten „Wettstreit der Systeme“ kann sich die DDR nicht einfach davonstehlen. Andernfalls - und da hat Reinhold recht - stünde ihre Existenz auf dem Spiel.

Matthias Geis

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen