piwik no script img

„Du schaffst - und kannst dir nichts leisten“

Im Gespräch mit den DDR-Flüchtlingen ist viel vom Geld die Rede / Sie beklagen, daß sie sich nichts leisten, aber auch nicht verzichten können / Und wenn sie was bekommen, ist es „Schrott“ / Zwiespältiges Echo im Westen auf die DDR-Flüchtlinge  ■  Aus Ungarn Heide Platen

Warum hauen sie ab, verlassen ihre vertraute Umgebung, FreundInnen und Verwandte, ihr Hab und Gut und ihren Arbeitsplatz? Sind es wirklich die Apfelsinen, der glitzernde Wohlstand im Westen? Hat der reale Sozialismus seine Kinder zu krassem Materialismus, schnöder Geldgier, zu Konsumidioten erzogen? Zu Anpaßlern und Kriechern im Sozialdarwinismus einer Leistungsgesellschaft?

Im Gespräch mit DDRlern ist unendlich viel von Geld die Rede, es wird gerechnet und gegengerechnet. Jede Unterhaltung über Ost und West endet irgendwann bei den Dingen und beim Geld. Auf einer schwarzweißen Häkeldecke vor dem Konsulat in Budapest hocken vier junge Männer im Gras. Peter rechnet vor: Ein VW Golf C kostet in der DDR 100.000 bis 120.000 Mark. Der Blick in den Westen, der Fernseher ist für 8.000 Mark zu haben, die dazugehörige Parabolantenne für 30.000 Mark. Die jungen Leute stehen auf jene tragbaren Radiorecorder, die hier verächtlich Ghettoblaster genannt werden: 1.500 Mark pro Stück. Als Facharbeiter hat er 800 Mark im Monat verdient, als Brigadeleiter dann 1.100.

Und dann geht es Schlag auf Schlag. „Ja, weißt du, es sind nicht die Apfelsinen, aber irgendwo doch - auch!“ Sie versuchen zu erklären, daß Konsum für die DDRler nicht einfach Konsum ist, sondern ein Lebensgefühl, Synonym für Freiheit, für die große, weite Welt, die greif- und faßbar nur in winziger Dosierung den Weg über die Grenze findet, meist in West-Paketen - als Geschenke. Die Werbung im West -Fernsehen wirkt - anders als in der Bundesrepublik - schon in ihrer Vordergründigkeit. Freiheit und Abenteuer? Marlboro und Camel Filter sind die Lieblingszigaretten der DDRler. Sie würden wirklich meilenweit gehen für eine Camel Filter, wenn sie nur könnten. Während hier Bedürfnisse erst mühsam und mit Millionenbeträgen erzeugt werden müssen, sind sie dort ebenso ständig vorhanden wie uneingelöst. Das schafft tägliche Frustration. Ein Gegenstand aus dem Westen ist nicht nur einfach ein Gegenstand, sondern ein Fetisch, eine Art Beschwörungsformel für ein anderes Leben.

„Nichts, nichts kannst du dir leisten!“ meint Klaus verbittert. „Und verzichten kannst du auch nicht!“ sagt Peter. DDR-Devise ist, bringt er die Mentalität seiner Landsleute auf den Punkt: „Was man hat, das hat man.“ Und: „Wenn du in der DDR was siehst, mußt du es kaufen!“ Zugreifen, Schlangestehen, solange es überhaupt irgend etwas gibt. Die Freiheit zum Verzicht sei nicht drin. Falko mault aus dem Hintergrund: „Von wegen, was du siehst, mußt du kaufen. Sieh mal morgens ein Brötchen beim HD. Und wenn du es kaufst, ist es steinhart, weil von vorgestern.“ Daß das, was zu bekommen ist, auch noch Schrott ist, ärgert die DDRler am meisten.

In der Holzwirtschaft, berichtet Peter empört, wreden selbst die Schnitzel für Spanplatten nach zweierlei Maß bearbeitet. Das Holz für den Export wird säuberlich entrindet und gereinigt, das für den Inlandsbedarf wird ungereinigt kleingeschnetzelt. Entsprechend sei die Qualität der Möbel. Eine Schrankwand kostet 10.000 Mark. „Und wenn du am Schrankgriff ziehst, kracht alles auseinander, und die Brösel fallen raus.“ Der Zorn auf den eigenen Staat ist heftig: „Für die sind wir der letzte Dreck!“ Alles für die anderen, nichts für uns, das prägt das Lebensgefühl der DDRler. Bernd: „Du schaffst dein ganzes Leben lang, und du bekommst nichts dafür!“

Apfelsinen? Das hört sich vielleicht lächerlich an, meinen sie, aber Obst und Gemüse sind wichtig. Weißkohl, immer nur Weißkohl an den Gemüseständen, vielleicht ein paar Gurken oder so. Peter erinnert sich noch ganz genau an die Südfruchtkonserven, die es zu seiner Jugendweihe gab, weil die nur auf Bezugsschein zu bekommen waren. Alle DDRler stürzen sich auf Bananen, verspeisen sie bündelweise. „Hmmmm“, sagt Isabel, „ist ja wie im Westen!“ Und nachdenklich fügt sie hinzu: „Wie im Westen. Das haben wir in der DDR immer gesagt, wenn wir mal was richtig Schönes erlebt haben.“ Noch im Zug nach Gießen stellt sie sich vor, draußen riefe jemand: „Dräääsden, Hauptbahnof.“ Und dann müßten alle „doofen Reporter“, die fragen, warum die Zonis abhauen, „mit und fürs 'Neue Deutschland‘ arbeiten.“ Auch Peter hatte gesagt: „Wenn Sie mal ein Jahr bei uns gelebt haben, nicht nur auf Urlaub, dann verstehen Sie das.“

„Wir sind doch nicht bescheuert“

Oft klingt eine Haßliebe zu Westdeutschland an. Die „Zonis“ („Nehmen wir nicht übel, so nennen wir uns ja selber schon.“) werfen den „Wessis“ vor, „daß wir nichts haben und die alles“. Daß sich die Westdeutschen im Urlaub am Schwarzen Meer oder am Plattensee dicke tun, daß sie sie behandeln „wie die armen Verwandten“, verletzt sie.

Dem eigenen Staat werfen sie vor, daß er sie - eben - „wie die armen Verwandten“ ins Ausland schickt, mit einem lächerlichen Betrag Devisen ausgestattet. Sie fühlen sich blamiert und verraten: „Und die da oben wollen uns noch weis machen, daß wäre das Größte und eine Vergünstigung!“ Bernd: „Wir sind doch nicht bescheuert!“

Der Staat, von dem sie sich einerseits gegängelt, andererseits vernachlässigt fühlen, hat sie geprägt. „Die sind zu blöd zum Abhauen!“ „Die muß man ja über die Grenze tragen“, hatten Westler in Sopron gespottet. Sie trauten sich gar nicht erst an die Grenze heran, stiefelten kilometerweit von der Grenze entfernt durch die Maisäcker, hielten alte Zäune irrtümlich für die Grenze. Auch wer die westdeutsche Besserwisserei und die österreichische Überheblichkeit in solchen Gesprächen streicht, kommt zu dem Schluß, daß die Angst der DDRler vor Uniformen tief sitzt. Gefängnisbedienstete in Grenznähe, in die Kaserne heimkehrende Soldaten lösen Furcht aus. Fast alle, die gefaßt und zurückgeschickt wurden, sind beim Anblick von Grenzstreifen einfach stehengeblieben, haben sich zurückschicken lassen, statt weiterzugehen. Die Gerüchte kursieren, aus Mücken werden Elefanten. Erst nach dem Soproner Grenzfest entstand langsam Vertrauen in die ungarische Administration. Und damit mehr Selbstbewußtsein. Die Ungarn beklagen inzwischen, daß sie mit überaggressiven Flüchtlingen zu tun bekommen. Es fällt den DDRlern schwer, das widersprüchliche Verhalten der Grenzer einzuschätzen und in Zusammenhang mit dem Ost-West-Spagat der ungarischen Außenpolitik zu bringen.

Warum sie abhauen? Bernd druckst herum, versucht Worte zu finden: „Ein bestimmtes Ziel hab‘ ich gar nicht.“ Eigentlich ist ihm das, was er dann sagt, viel zu pathetisch: „Daß man ein freier Mensch ist!“ Peter versucht das zu erläutern: „Du kannst nie in deinem Leben mal was selbst bestimmen. Irgendwann mußt du doch mal dich selbst verwirklichen, dein Leben in die eigene Hand nehmen.“ Dann in der Schule, bei den Jungen Pionieren, bei der GST, der Gesellschaft für Sport und Technik, die für Schüler Pflicht sei. „In Wirklichkeit ist das eine Wehrsportgruppe. Da wirst du nur auf den Krieg vorbereitet.“ Das gehe weiter in der Armee, in der Lehre, am Arbeitsplatz. Nie habe er selbst bestimmen können, was er tun wolle. Alles sei vorgeschrieben, voraussehbar und verwaltet. Wer 25 sei, wisse, daß er in zwölf Jahren, mit 37, eine Wohnung bekommt, vielleicht ein Telefon, und in 16 Jahren, mit 41, sein Auto. Eine junge Frau in Sopron sagt: „In der DDR hast du mit 25 das Gefühl, dein Leben ist vorbei. Es passiert nichts mehr.“

Eigentlich habe er gar nicht abhauen wollen, meint Bernd: „Man ist ja auch daran interessiert, daß sich zu Hause was ändert.“ Er ist Kriegsdienstverweigerer, wurde „auf Spaten“ gemustert, kam zu den Bausoldaten, die Dienst ohne Waffe tun. Alles sei da nur Schikane gewesen. Nachts um eins seinen sie aus den Betten geholt worden, um Split abzuladen. In seiner Einheit habe sogar ein Schwerversehrter Dienst tun müssen: „Der hatte eine Metallplatte im Schädel.“

Jugendlicher in der DDR? Ost-Berlin sei schon schlimm genug, aber auf dem Land sei es noch unerträglicher. Bücher, Zeitungen, Kino, Musik - alles tote Hose. Bücher werden zwar gedruckt und ausgeliefert, aber wenn sie der Partei nicht passen, tauchen deren Funktionäre bei den örtlichen Buchläden auf, kaufen die ganze Lieferung und stapeln sie in der Parteizentrale. Nicht nur der sowjetische 'Sputnik‘ ist verboten. Peter hatte die ungarische Technik- und Umweltzeitschrift 'Universum‘ abonniert. Seit einem Jahr bekommt er sie nicht mehr ausgeliefert. Kulturangebote auf dem Land? „Nischt!“ „Fernseher!“ Kinokarten sind schon vier Wochen vorher ausverkauft. Klaus: „Man will sich doch mal unterhalten.“ Peter: „Problemfilme guckt sich bei uns keiner an.“ Sport? Das geht nur über die GST, und deren Angebot ist dürftig und paramilitärisch. Peter bekommt einen schwärmerischen Blick: „Ich hätte gerne mal getaucht, oder Gleitfliegen.“

„Ihr bekommt da einen ganz schönen Schrott rüber“, hatte ein Österreicher abends in einer Kneipe in Sopron warnend gesagt. Querulanten und Duckmäuser, Arbeitsscheue und Traumtänzer habe er unter den Zonis ausgemacht. Und außerdem, das wiederholt er immer wieder: „Ein Mensch mit Charakter verläßt seine Heimat nicht!“ Auch in der Zollstation von Sopron verstricken sich die wartenden Westler untereinander in eine heftige Diskussion. Eine pensionierte Beamtin wettert: „Alles nur Arbeitsscheue zwischen 18 und 25. Das müßte man unterbinden.“ Und: „Viel Geld verdienen und nicht arbeiten wollen. Die hauen ab, weil sie zu faul sind.“ Ein Mann schwingt seinen Regenschirm: „Nur Gesindel!“ Das liege alles an der Erziehung, das fange eben „im Elternhaus“ an. Als die Pensionärin in den Zug gestiegen ist, vergewissert sie sich bei der Frau im Abteil: „Sind Sie etwa DDR- Flüchtling?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen