Verschwörung der Theoretiker: Ein Symposium zur Tanzkritik an der Akademie der Künste

Allgemeine Zustandsbeschreibung der deutschen Tanzkritik: ungenau, wabernd, falsch, ohne historisches Wissen geschrieben, uninformiert, fahrlässig, langweilig, öde, unspiriert, schlampig, konservativ, schablonenhaft, Vollstrecker von Vorurteilen, wohlmeinend ohne Argumente, opportunistisch, unsinnlich. Mit diesem unwidersprochenen Bild verabscheuungswürdiger Schandtaten deutscher Journalisten, gezeichnet von Norbert Servos, begann am Freitag ein Symposium zur Tanzkritik. Initiiert hatten Johannes Odenthal, Herausgeber der Zeitschrift 'tanz aktuell‘, und Nele Hertling diese erste Auseinandersetzung über Probleme und Ziele der Tanzkritik im Rahmen der SommerWerkstatt.

Gekommen waren Journalistinnen aus Berlin, die Rundfunk und Tageszeitungen mit Berichten über Tanz versorgen, viele bundesdeutsche Korrespondenten überregionaler Tanzzeitschriften, Tanzhistorikerinnen, Tanzpädagoginnen, junge Veranstalter von Festivals und angehende Manager freier Compagnien, Filmerinnen und Kulturpolitikerinnen aus Bremen und zwei Choreographen der Berliner „tanzfabrik“. Direkt verurteilt von Servos‘ Schelte fühlte sich in dieser Runde kaum jemand; von den eigentlichen Feinden, den grauen Eminenzen der Tanzkritik, den mauernden Redakteuren in überregionalen Tages- und Wochenzeitungen, in Rundfunk- und Fernsehredaktionen ließ sich niemand blicken.

Gelungene Metapher gegen Journalisten-Poesie

Servos, Choreograph und Autor von „Ballet International“, setzte seiner deprimierenden Bestandsaufnahme die Forderung nach einer Tanzpoetik entgegen, die die sinnlichen Sensationen einer Choreographie nachschaffe in einer bilderreichen Sprache. Er verlangte Metaphern statt Journalistenpoesie und verlieh dem Tanz in seiner Skizzierung ein Pathos des Aufbegehrens. Da wurde der Bühnenraum zum Horizont der Gedanken und der Körper des Tänzers zu einer Manifestation des freien Willens. So wie der Tanz den Körper zur Aufgabe des Gewohnten verführte, müsse der Tanzkritiker den Leser zur Überschreitung bisheriger Grenzen verlocken. Der Text über den Tanz als analoge Schöpfung.

Doch da lag der Hase schon im Pfeffer. Zum Beispiel dieses Bild - liegt da irgendwas, gibt es da etwas Hasenartiges, reizt da irgendwo Pfeffer? Die Rede über die Metaphern, die die Runde noch oft ins Grübeln brachte, blieb mangels konkreter Beispiele vage. Lassen sich Metaphern in den Dienst der Präzision stellen? Wie lassen sich Bindeglieder schaffen zwischen dem konkreten physischen Prozeß auf der Bühne und den Sprachbildern? Beim Wildern in der Terminologie der Bildenden Kunst, des Theaters, der Psychologie und der Technikgeschichte, immer auf der Suche nach Sprachmaterial, droht das Eigentliche, der Tanz, wieder der Beschreibung zu entgleiten und hinter den Verweisen zu verschwinden.

Beginn einer Konspiration

Nach Servos‘ hehrer Zielvorgabe, die das nicht-künstlerische Ich der Schreiberin zusammenschrumpeln ließ, stellte sich bei Claudia Hennes (SFB) Ideal einer leidenschaftlich geschriebenen Tanzkritik und ihren Bekenntnissen aus dem Alltag im Hörfunk erstmals jenes konspirative Klima her, das das Symposium für mich lohnend und vergnüglich machte. Das Wiedererkennen der konkreten Schreibprobleme: die Flucht in die Beschreibung, Angst vor Verantwortung und Mißverständnis, der Zeitdruck, die mangelnden Möglichkeiten der Weiterbildung.

Immer dieses verfluchte Gefühl, auf dünnem Eis zu wandeln. Nicht genug aus der Tanzgeschichte, von den immer neuen Aufbrüchen aus alten Formen in diesem Jahrhundert zu wissen, nicht genug aus den internationalen Produktionen zu kennen. Die ökonomischen Bedingungen eines Journalisten ermöglichen leider kaum Studienreisen udn Weiterbildungswochen, die ihn verstreute Tanzliteratur zusammensuchen und durchackern lassen. Sich das eigentlich nötige Wissen zu erarbeiten, bleibt privater Luxus.

Mit einem Sack voll praktischer Vorschläge für die tägliche Arbeit kam die Münchner Tanzkritikerin Malve Gradinger angereist, die ihre Expedition auf der Spur der Tänzerfüße oft nach Frankreich geführt hatten. Neidvoll schielten wir bei ihrem Vortrag in dieses Paradies. In Frankreich werden in vielen Städten mit der Förderung der „Maison de dance“ (Tanzhaus), die Ausbildungszentren und Aufführungsorte zugleich sind, auch das Reden über und die Reflexion des Tanzes betrieben. Würde man in die Präsentation der 60 freien Tanz-Compagnien in Deutschland, die dem Herausgeber von 'tanz aktuell‘ bekannt waren, denselben propagandistischen Aufwand investieren, die kulturelle Landkarte Deutschlands sähe ganz anders aus. Tänzer, Choreographen, Historiker, Journalisten, Philosophen, Wissenschaftler aller möglicher Disziplinen arbeiten in Frankreich an gemeinsamen Themen. Allein in diesem Jahr sind dort zwei Bücher mit Analysen der Arbeit junger Choreographen erschienen. Frau Gradinger berichtete sogar, es gehöre zum Programm der Präsentation und Propagierung staatlich geförderter Kunst, Journalisten zu den Festivals einzuladen, inklusive Anreise und Hotel! Der schiere Wahnsinn! Berührungsängst zu den Künstlern abzubauen, in deren oft endlosen Reden über den eigenen Körper nach Sprachmaterial zu fischen, betonte die Münchnerin als unbedingt notwendige Vorraussetzung des Schreibens.

Körperschwund

Die Tänzerin und Filmemacherin Heide-Marie Härtel lehrte Mißtrauen in die elektronischen Bilder vom Tanz, gedacht auch als Warnung an die Compagnien, die mit Video ihre Arbeit dokumentieren und präsentieren. Am Detail dröselte sie auf, daß jede technische Manipulation, notwendig zwar, um das Bühnengeschehen im verkleinerten Bild des Monitors überhaupt wahrnehmbar zu machen, in das Raum-Körper -Verhältnis eingreift und das visuelle Erleben reduziert. Sie kritisierte den Hang der Fernsehanstalten, bei ihren seltenen Sendungen über den Tanz das Bild zu schönen. Der Körper des Tänzers in seiner physischen Präsenz wird zurückgedrängt, übrig bleibt das Bild. Durch diese Schwierigkeiten aufmerksam geworden, untersuchte sie geschriebene Tanzkritiken und fand auch hier wieder eine Tabuisierung des konkreten Körpers.

Doch genau dieses Phänomen wiederholte sich auf dem Symposium. Bis auf das Referat über Körperbewußtseinstechniken von Irene Sieben, Tanzpädagogin und Autorin, wurde der Körper wieder nur in vagen Umrißlinien angedeutet. Ein weiterer heikler Punkt war die Frage nach der Qualität. Die Ablehnung des zeitgenössischen Tanzes durch die konservative Kritik verleiht ihm einen avantgardistischen Nimbus, dem viele Compagnien nicht entsprechen können. Der arme, einsame Tänzer schindet sich unter miserabelen wirtschaftlichen Bedingungen ab, kämpft gegen eine Bande von Ignoranten und neigt so verzeihlicherweise zur Übertreibung des eigenen Heldentums. Walter Heun, Geschäftsführer der „Tanztendenz München“, sah im Kritiker einen ehrenamtlichen Agenten des Tanzes. Nele Hertling hob die moralische Verantwortung der Kritik hervor: Sie habe ihr Kind zu päppeln, die Tanzszene zu stabilisieren, Kontinuität zu ermöglichen, Entwicklungen auch bei enttäuschenden Anfängen weiter zu verfolgen und die Hoffnung niemals aufzugeben. Heitkamp und Carley von der „tanzfabrik“ und Dirk Scheper, dem Betreuer der Tanzprogramme in der Akademie der Künste, ging es vor allem darum, daß die Tagesrezension Publikum anzieht. Man müsse auch bei Nichtgefallen dem Publikum Einsichten vermitteln, argumentieren, historische Standorte beschreiben, und es zur Geduld erziehen.

Ob dieser moralischen Last plagte die schreibende Zunft ein wenig das schlechte Gewissen. Zaghafte Proteste gegen die lauen Texte wurden laut, in denen unbefriedigende Tanzabende von Pädagogen der Zuschauer und Förderern der Tanzkunst wohlwollend behandelt werden, die ihre Langeweile nur gerade durchschimmern lassen.

Die geplante Attacke

Auf diesem Symposium belegte schon das allgemeine Interesse an Literaturlisten das Leiden am dürren Wissensstand. Tanzkritiker in Deutschland sind Autodidakten und schlecht ausgerüstet, um einer Kunstgattung, die von allen Kulturvermittlern der oberen Ränge ins hintere Eckchen geschoben wird, das nötige kulturpolitische Gewicht zu verleihen. So wurde aufgerufen zur Attacke gegen sture Redaktionen und ihren bezahlten Schlaf. Dazu wünschte man sich Informationszentren, die das verstreute Material über den zeitgenössischen Tanz zugänglich machen. Die Arbeit an einer historischen Kritik des Tanzes und seiner interkulturellen Einbettung, die die Tageskritik mit ihren Service-Aufgaben nicht leisten kann, hatte diesem Symposium zwar anfangs als Ziel vorgeschwebt, wurde aber durch viel konkretere Probleme zurückgedrängt und auf weitere Tagungen verschoben. Visionen vom Tanz als der Kunst der Zukunft, die die immer weiter getriebene Trennung von Ratio und Körper auffangen könnte, blitzten nur am Rande auf.

Über eines sprach man während der ganzen Veranstaltung nicht, daß nämlich die Tanzkritik, wenn sie sich in ihre Vermittlerrolle hineinsteigert, ähnlichen Gefahren wir die Kunstkritik ausgesetzt sein könnte. Die bildende Kunst und ihre Rezensionen erfahren eine ständige Expansion; Kunstvermittlung wird zu einem aufgeblähten Bereich, der sich nach eigenen Gesetzen vervielfältigt; die Quantität verstellt den Blick auf die Qualität.

Bei der abschließenden Diskussion am Sonntag versprach Dr. Fessmann, Referatsleiter der Abteilung4 - Schauspiel, Theater, Tanz - des Kultursenats, den größten Unterhaltungswert. Endlich ein leibhaftiger Gegner. Er bekannte zunächst seine Einsicht in die miserable Ausbildungs- und Finanzierungslage des Tanzes, sprach von dem mit Spannung beobachteten neuen Publikumspotential der freien Tanzszene, reduzierte aber alle kulturpolitischen Handlungskonsequenzen auf die Erkenntnis, daß es jetzt um Umverteilungskämpfe gehe. Tänzer in den Ring, boxt die Schauspieler nieder! Boxhandschuhe für alle. Nachdem so oft die Freiheit des Tänzers, gegen Form- und gesellschaftliche Konventionen aufzubegehren, zitiert worden war, blieb am Ende nur das Faustrecht der Freiheit übrig; die Unterwerfung der Kultur unter die Gesetze der Marktwirtschaft.

Katrin Bettina Müller