: ERLEBNISRAUM KRIEG
■ Sehr ernsthafte Aufforderung zu einem Fühlbilderverbot
Es gab einen lebenslustigen Onkel in meiner eher ernsthaften Familie, der, wenn er gelegentlich zu Besuch kam, nach fröhlicher Kaffee-, Kuchen-, Verwandtenrunde, nach hinreißenden Quatschtheatereien für uns kleinen Kinder, bei zunehmendem Wohlgefühl und gestärkt durch das Nach-Tisch -Fläschen Wein, begann, aus seiner Vergangenheit zu erzählen. Und die hieß vornehmlich Krieg. Der Krieg nämlich hatte ihm einige der ungewöhnlichsten, aufregendsten kurzum unvergeßliche - Geschichten seines Lebens beschert.
Unsere Eltern wurden dann immer unruhig; vorsichtig versuchten sie den drängenden Erzählfluß zu stauen oder zu kanalisieren; und die Kinder, die angstvoll und erregt zugleich den Onkel mit Augen und Ohren verzehrten, wurden aus der Wohnstube geschoben, möglichst ins Bett, wo dann die Bilder von russischem Eiseswinter und gestohlenem Essen, von ungeschützten Schützengräben und haarscharf vorbeisausenden Kugeln, von elender Gefangenschaft und riskanter Flucht sich tief in die unruhigen Träume einfraßen.
Es war damals so, daß Männer-Kriegserzählungen bei uns zu Hause zwar nicht direkt verboten waren - meist aus Höflichkeit männlichen Gästen gegenüber -, aber doch streng verpönt. Für uns Kinder freigegeben war der Krieg aus erstem Mund allenfalls, wenn Frauen von ihm erzählten. In solchen Geschichten trat er auf als schicksalshafte Heimsuchung, mit der die Mütter, Tanten, Großmütter, Dienstmädchen und Nachbarinnen in ihren privaten Alltagen fertigwerden mußten. Da ging es dann um Fensterglas- und Kaffee-Ersatz, um Flak -Dienst und aufgeribbelte Wolle, um erste Hilfe im Luftschutzbunker und um einquartierte Tommies, die den Kindern Brot schenkten. Und immer und immer wieder ging es um das sehnsüchtige Hoffen auf die Rückkehr der Kriegsmänner.
Der Krieg als Gewalthandeln war also in meiner 50er-Jahre -Kindheit als Gegenstand persönlicher Erinnerung tabu. Und das in der durchaus moralischen Absicht, ihn in den unverständigen Kinderköpfen nicht als Heldenerzeuger und als Spender von außerordentlichem Existenzgefühl festwachsen zu lassen. Also durfte von ihm nur die Rede sein, wie er, gewissermaßen als GAU, ins Weiblich-Gewohnte einbrach.
Womöglich war das so gut gemeint wie falsch, dieses weitgehende Verdikt über den Erlebnisraum Krieg, das fast etwas von einem jüdischen oder islamischen Bilderverbot hatte, wenn auch mit anderer Intention: Du sollst das Unvorstellbare nicht in einen Vorstellbarkeitsrahmen zwingen, der nur unzulänglich serielle Buntheit oder unzulässige Ikonen produzieren kann. Heute nun, Ende August 1989 und damit 50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, lautet verwirrenderweise das Gebot umgekehrt: Du sollst so viele Bilder als möglich herstellen, um das angeblich unzulänglich Begriffene vorstellbar zu machen.
Der Erlebnisraum Krieg ist gefragt wie nie. Angesichts des sich immer heftiger beschleunigenden kulturellen Wiederverwertungsbedürfnisses scheint es, als schaffe die erste und zufällige Lebenswirklichkeit uns Zweitjahrtausend -Endbewohnern kein ausreichendes Daseinsgefühl mehr, so daß wir süchtig sind nach recycelter Geschichte, zumal nach deren Intensität versprechenden Highlights. Und das sind Kriege, so oder so.
Es ist in der taz schon mehrfach darauf hingewiesen worden, wie gerade Berlin als damaliges Kriegsplanungszentrum des historischen Datums gedenken will. Es werden Artikel gedruckt und Vorträge gehalten zuhauf; Tagungen werden abgewickelt, Denkmäler errichtet und hundertundeine Ausstellung eröffnet. Vor allem - und das ist das Neue bemühen sich die subjektiv so wohlmeinenden Mahner um äußerste Annäherung an Authentizität. Um meinen Onkel würden sich die Erinnerungsdidaktiker und Historieninstallateure vermutlich reißen: als Video würde er, auf Knopfdruck, immer noch einmal in Stalingrad sein. Noch lieber hätten sie aber wohl eine kleine ausschnitthafte, begehbare Stalingradinszenierung - mit künstlichem Schnee in 3-D -Vision -, deren Aufbau er beratend hätte begleiten können.
Es soll hier nicht um besserwisserisch flockigen Spott gehen. Ich hätte nur gerne gewußt, was in Köpfen vorgeht, die für den 1.September, kommenden Freitag also, um 4.45 Uhr das Doubletten-Ereignis „Kriegsbeginn“ mit Festakt, Schnittchen und Prominenz (eine Kriegssenatorin, AL, haben wir zum Glück noch nicht) planen. Dem Deutschen Historischen Museum, Ausrichter dieses Szenarios, kann die taz, und mit ihr alle wir aufgeklärten KriegsablehnerInnen, noch mit berechtigtem Zynismus begegnen (und sie hat das ja auch gründlich getan).
Schwieriger scheint mir das schon bei der zur Zeit im 1.Programm ausgestrahlten Kurzserie Elf Tage zwischen Frieden und Krieg. Da wird in einer Art Adventskalender -Echtzeit-Parallelität das historische Ereignis heruntergezählt von elf bis zero. Am 26.August '89 war z.B. der 26.August '39 dran. Da aber der Traum aller Dokumentar -Simulierer notwendig nie in Erfüllung gehen kann - dieser Tag damals wäre nie reproduzierbar, und wenn die Sendung auch Jahre dauerte (Borges hat dieses vergebliche Unterfangen mehrfach beschrieben) -, da also eine Authentizität zweiter Ordnung logisch und praktisch unmöglich ist, greift man zu den bekannten Hilfskonstruktionen wie Zeitzeugenauftritten, Wochenschaueinspielungen, Off-Kommentaren und Expertenanalysen. Aber eben nicht nur.
Als gelte es, einem unglücklichen Mangel abzuhelfen, werden, der kinomäßigen Geläufigkeit halber, Szenen als lebende Bilder nachgestellt; worauf die Programmansage korrekter- und womöglich sogar dringend notwendigerweise vorher hinweist. Und da sehe ich nun am 26.2. z.B. im nächtlich herbstfarbigen scheinpolnischen Wald historisch getreue Soldatenstatisten mit vermutlich mordsechten Gewehren in die Gegend schießen - Tötungsakte werden dabei übrigens ausgespart; und ich sehe, wie sich diese „deutschen Soldaten“ nach erledigter geheimer Mission in einem vermutlich echt alten Armeelaster im dunklen Wald unter Hochleistungsfernsehbeleuchtung „heimlich“ ihre Uniformen aus- und ihre Zivilkleidung wieder anziehen.
Ohne daß das freilich etwas hülfe! Einesteils wird mir während des fünfzehnminütigen, wahrhaft heillosen Wirrwarrs aus Materialechtheit und gesinnungsechtem Spiel, aus atemberaubend kriegstreuem Kommentar und hilflos aus bester Ablehnungsabsicht verleugnendem Veteranen-Erlebnisbericht kein wie auch immer gearteter Zusammenhang klar. Andernteils bestätigt dieses (hoffentlich) in bestem pädagogischen Wollen und (gewiß) für den besten Sendeplatz hergestellte Produkt nur ein weiteres Mal die ja längst zum Standardargument verplattete These vom Simulationscharakter aller Wirklichkeit. Um von dem „Beirut-Syndrom“ gar nicht erst zu reden - dem Krieg nämlich, der nur als Fernsehserie in unserem TV-Bewußtsein existiert; einer Serie allerdings, die allmählich, ähnlich Dallas oder Denver, erheblich an Spannung zu wünschen übrig läßt.
Diese Eigenbeobachtung wiederum legt den Verdacht nahe, daß die „echte“ Weltkriegsreihe dann doch womöglich eine klammheimliche Sehnsucht nach der besseren Serie aus der Alten Welt nur schlecht verhehlen kann. Bietet sie doch sowohl den Vorteil des eigenen nationalen Ereignisses als auch den des Vergangenseins, was gezieltere und zugespitztere Höhepunktsdramaturgie erlaubt. Die „echte“ Wirklichkeit des scheinbar Zufälligen kündet ihre Höhepunkte ja selten vorher an.
Solche wie immer unbewußten Absichten lassen sich nun - ein drittes Beispiel - der „Berliner Geschichtswerkstatt“ kaum unterstellen. Wenn auch die Zeitgleichheit ihrer Ausstellung zum Ersten Weltkrieg mit dem 50-Jahre-Gedächtnis an den Zweiten einigermaßen merkwürdig ist: Ein Krieg, so scheint es, kommt so gut wie der andere; man muß die Feste feiern, wie sie fallen, und die Erlebnisbereitschaft der immunisierten Öffentlichkeit nutzen. Die Ausstellung heißt Hurrah, endlich Krieg! Das Augusterlebnis 1914 und beginnt am 2.September im Künstlerhaus Bethanien. Das verdächtige Wort „Erlebnis“ macht zwar hellhörig, die Fragestellung der Ausstellungsmacher aber klingt redlich: „Die überlieferte Kriegsbegeisterung bei Beginn des Ersten Weltkrieges ... stellt für uns heute ein Rätsel dar.“ Die Wiederbelebungsparallelität von Nazikrieg und kaiserlich -nationalem Krieg könnte immerhin einer Klärung dienen.
Dann aber ist der Teufel in die Werkstatt oder zumindest in deren Öffentlichkeitsarbeiter gefahren, die das Vorhaben der Presse mitteilen. Deshalb sollen die hier in aller O-Ton -Buchstäblichkeit zu Wort kommen.
„Im Zentrum der Ausstellung steht die Rekonstruktion der geistigen und emotionalen Vorstellungswelt, der politischen und sozialen Bilder der Menschen am Anfang unseres Jahrhunderts in Deutschland über ihre kulturellen und symbolischen Ausdrucksformen. Damit wird eine Mentalität umrissen, die einen Höhepunkt in der Kriegsbegeisterung von 1914 erfuhr. Die Ausstellung versucht, diese Mentalität und ihr gesellschaftlich-kulturelles Umfeld auf sinnlich nachvollziehbare Weise zu veranschaulichen, indem sie erlebnishaft über die wissenschaftlich-nüchterne Dokumentation hinausgeht. Mit Dokumenten, Alltagsgegenständen, Skulpturen, Plakaten, Kunst, Fotos, Collagen, Videos und Environments hat die Projektgruppe ... eine dokumentarische Schau inszeniert, die mit kontroversen Sichtweisen der Zeit, exemplarischen Zitaten und Welt -bildern jene zivilisatorischen Phänomene in einen geistigen Zusammenhang stellt und so die Ursachen eines katastrophalen Geschichtsverlaufes umreißt.“
Ich habe die Ausstellung noch nicht gesehen. Mich interessiert auch nicht deren Mehr-oder-weniger-Gelingen. Es geht mir vielmehr um die „Mentalität“, der an einer solchen Inszenierung gelegen ist; einer Gesinnung also, die Wörter benutzt wie „emotionale Vorstellungswelt“, „sinnlich nachvollziehbar“, „veranschaulichen“, „Collage“ und „Environment“ (ein enthüllender Verhüllungsbegriff aus dem Happening-Vokabular). Und all das, im arrangierten Ensemble, soll zu einem Übertrumpfen gewissermaßen des Faktischen hinführen: „Erlebnishaft“ erleben ist mehr als „wissenschaftlich“ wissen! Auch wenn für ein ganz starkes Dabeiseinsfieber vielleicht doch das echte Risikobewußtsein eines Russisch-Roulette-Spiels noch fehlt.
Wer eigentlich soll da ins Gefühlsechte hineingezoomt werden? Was zum Teufel soll nachvollziehbar werden, was nicht längst intellektueller Bestand ist? Rast da nicht eine begriffslose Kultur: Wir bieten optimale Hi-Fi-Qualität! in Zirkusmanier: Erleben Sie das Fahrgefühl im echten Schützenpanzer! - in die Falle selbstloser Technik at its best? Und welche Konkurrenz-Feinde schließlich gilt es dabei auszustechen?
Ursachen von Kriegen und Zusammenhänge lassen sich nicht qua Erlebnis herausfinden. So entsteht der Verdacht, daß das Ganze für realitäts-, bilder- und wissensmüde Lebensgelangweilte gedacht ist. Die Geilheit von Zeitmaschinen allerdings wird auch die teuerste und detailreichste Rekonstruktion nicht ersetzen können. Selbst Hollywood und Japan gelingt das nur partiell. Und unsere „Unschuld“, mit der wir einstmals entsetzt weinend „Die letzte Brücke“ sahen, ist auf immer verloren.
Vielleicht ist es ja so, daß derartige Erlebnis -Inszenierungen, weit davon entfernt, den Krieg erfahrbar zu machen oder seine zukünftige Verhinderung zu befördern, eher einen historischen Prozeß sichtbar machen; indem sie sich nämlich zweier Methoden bedienen, die einander wechselseitig verstärken sollen und doch zur gegenseitigen Schwächung beitragen. Ich meine die Machtergreifung der Bilder einerseits und die Erlebnisbarmachung (das kranke Wort ist Absicht) von Vergangenheit andererseits. Jedes weitere Bild, das der Unmenge schon vorhandener Bilder hinzugefügt wird, tötet ein Stück Vergangenheit; und jede weitere und immer vollkommenere historische Echtzeit-Simulation erstickt ein wenig mehr die Sprachfähigkeit vorhandener Bilder.
Zur bilderarmen Zeit meines Onkels waren Bilder verboten wegen ihrer verführenden Mächtigkeit; heute, da die herrschenden Bilder den horror vacui besänftigen, indem sie blindlings Sinnlöcher stopfen, sollen sie ausdrucks- und sprachlos die wahrheitproduzierende Kraft von bildzeugenden Wörtern ersetzen.
PS. Ich kenne einen einzigen „rekonstruierten“ Ort, an dem ich Geschichtliches so erfahren habe, wie es alle grauenhaften Erlebnisraum-Dekorateure nie werden erreichen können, um nicht zu sagen: wollen. Und das ist die kleine Ausstellung Topographie des Terrors, die keine Geschichts-Performance präsentiert, sondern die Schrift eines Ortes sprechen läßt. Bilder und Texttafeln werden da nicht als Erlebnisraketen gezündet; es ist vielmehr die historische Identität des Ortes, die im Zeitalter der Verschleifung von Fiktion und Wirklichkeit in aller Schärfe die Präsenz der (nicht) vergangenen Geschichte als gefährlichen, nahen Fremdkörper vor Augen stellt.
Christel Dormagen
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