Gorbatschow will Union umwandeln

■ TV-Ansprache zur Nationalitätenfrage und Versorgung / ZK-Plenum im September

Moskau (dpa) - In einer am Sonnabend vom Fernsehen ausgestrahlten Ansprache kündigte Gorbatschow „grundlegende Entscheidungen zur Umwandlung der sowjetischen Föderation“ und ein Dringlichkeitsprogramm für die Wirtschaft an. Der sowjetische Parteichef sagte, daß die Lage „nicht leicht ist, da sich verschiedene Probleme zu einem festen Knoten geschnürt haben“. Es gebe „Versuche konservativer, linksgerichteter und manchmal offen anti-sozialistischer Kreise, die Perestroika zu diskreditieren“. Wer den Einfluß der Partei zu unterhöhlen versuche, müsse wissen, daß dies nicht gehe. „Perestroika und Verantwortungslosigkeit sind unvereinbar.“

Zur Nationalitätenfrage kündigte er „grundsätzliche Entscheidungen“ an, die auf der für Ende des Monats geplanten Plenarsitzung des Zentralkomitees getroffen würden. Zur „Belebung der Wirtschaft und Normalisierung des Verbrauchermarktes“ werde die Regierung im Herbst ein Dringlichkeitsprogramm vorlegen.

Der führende Vertreter der Reformgegner in der KPdSU, Politbüromitglied Jegor Ligatschow, hat in einer von der Samstagausgabe der 'Prawda‘ wiedergegebenen Rede erneut gefordert, die Partei wieder härter an die Kandare zu nehmen. „Das Hauptproblem heute ist die Einheit der Partei, der organisatorische und ideologische Schulterschluß und die Verstärkung der Massenverankerung“, erklärte Ligatschow in seiner Rede am Freitag in Frunse in Kirgisien. „Ohne die Stärkung der Einheit der Partei wird die Perestroika scheitern“, rief er den ZuhörerInnen zu. „Es gibt Kräfte, die die Perestroika ganz anders verstehen und versuchen, die Grundlagen des Sozialismus aufzuweichen - Privateigentum einzuführen, Marktelemente zu entwickeln, Parteienpluralismus herzustellen und die Stabilität zu zerstören“, sagte er. „Sie verleumden die Partei, verunglimpfen die Kommunisten und die Führung, sie betreiben Demagogie, aber tun nichts, um die Schwierigkeiten zu Fortsetzung auf Seite 2

überwinden.“ Boris Jelzin, zur Zeit zu Besuch in den USA, machte auch Gorbatschow für die kritische Lage in der SU verantwortlich: „Es ist klar, daß unsere Reformen sich verzögert haben. Die Wirtschaft steckt in einer Krise; unsere Finanzen sind in der Krise; die Kommunistische Partei ist in einer Krise... Der Lebensstandard ist nach vier Jahren Perestroika nicht ein bißchen gestiegen... Es ist höchste Zeit, daß Gorbatschow für seine Arbeit Rechenschaft ablegt und uns sagt, warum sich die Lage nicht verbessert hat.“

In Kiew haben unterdessen mehrere tausend Menschen die Gründungsversammlung einer für größere Unabhängigkeit von Moskau eintretenden ukrainischen Volksbewegung verfolgt. Wie ein Sprecher der ukrainischen Helsinki-Union, die sich die Überwachung der KSZE-Beschlüsse von Helsinki zur Aufgabe gemacht hat, in Moskau mitteilte, wurden die Debatten der 1.200 Delegierten über Lautsprecher ins Freie übertragen. Dabei wurde der Rücktritt des ukrainischen Parteisekretärs und letzten im Politbüro verbliebenen Breschnewisten Schtscherbitzki gefordert.

In dem mit den alten ukrainischen blau-gelben Nationalfarben geschmückten Saal des Polytechnischen Instituts von Kiew erörterten die Delegierten das Programm der Volksbewegung, die nach dem Vorbild bereits bestehender Volksfronten im Baltikum, im Kaukasus, in Moldawien und in Weißrußland organisiert wird.