Die Sonne scheint-betr.: Einige ganz subjektive Überlegungen zu Ereignissen in der BRD aus der Fremde

Einige ganz subjektive Überlegungen zu Ereignissen in der BRD aus der Fremde

Es wäre mir lieber, die Deutschen blieben vermehrt dort, wo sie wohnen: In Kirgisien, in Polen, in der DDR, in der BRD. Damit kein Mißverständnis entsteht: Ich begrüße alle Ankömmlinge in der BRD und meine, man sollte sich bereiterklären, die SiedlerInnen privat bei sich zu Hause für eine begrenzte Zeit aufzunehmen. Schwärmen von diesem Erlebnis nicht BRD-UrlauberInnen, die aus Griechenland oder aus der Türkei zurückkehren? Ich will niemandem ein schlechtes Gewissen bereiten, man sollte es bereits haben.

Ich begrüße die Neuankömmlinge, aber ich wünschte mir eine Bevölkerung in der BRD von maximal 30 Millionen, mit halbsoviel Autos, halbsoviel Fabriken, halbsoviel Fläche. Mit Weltgeltung im humanitären und kulturellen Bestreben. Heimliche Wünsche, aus Scham nur geflüstert.

In der BRD gibt es genügend Lebensraum auch für 80 Millionen Menschen. Was mir die Sinne raubt, ist die vielgepriesene Mobilität: Eine aufgescheuchte Menschenherde flitzt und keucht und düst und brettert durch alle Aggregatzustände der Fortbewegung. Diese umtriebene Lebhaftigkeit kommt wie Todesangst daher. Und zwar dorthin, wo ich gerade bin. Und wo schon alle zu sein scheinen: Dort, wo es ruhig zu sein versprach.

Meinen agilen Nachbarn treffe ich am Morgen im Lebensmittelgeschäft, am Abend an einem abgelegenen Ort in Portugal. Zufällig.

Was mir den Versand raubt: 80 Millionen würden mehr, schneller, gründlicher zerstören als 60 Millionen. So könnte mein Anfangsgruß in Siedlerhaß umschlagen, davor bewahre Gott. Bin ich doch selbst - bundesdeutscher - Gastarbeiter. Ich arbeite - für begrenzte Zeit - in Coimbra/Portugal. In Portugal schien dieses Jahr fast jeden Tag die Sonne. Das beunruhigt mich, denn es wird sich herumsprechen. Ich leide unter Verfolgungswahn und habe Platzangst. Auch dieser Aufenthaltsort ist jetzt schon ein Ort der Vielzuvielen. Es ist Sommer, wir haben August, den traditionellen Ferienmonat in Portugal. Wenn fast alle Portugiesen vor der Hitze ans Meer entwichen sind, ist Coimbra belebter als üblicherweise. Dann quälen sich die TouristInnen in der Gluthitze von 40 Grad die steilen Treppen der ersehnten Lichtstadt hoch, schwärmen von der Schönheit der aus Armut verfallenen Häuser der Altstadt, aus denen Geruch von Moder und Urin dringt.

Ich bin ein romantischer Mensch und träume. Ich möchte spazieren gehen, etwa im Kottenforst in Bonn, ohne den Lärm von Hubschraubern, Autos oder der Vielzuvielen. Das wäre Lebensqualität auch mit niedrigem Gehalt. Im Rhein schwimmen möchte ich lieber nicht mehr.

100.000 BürgerInnen der DDR kommen in diesem Jahr, und es werden gute Bundesdeutsche werden, aufstiegsorientiert, reiselustig. Sie werden nach Coimbra kommen und vielleicht, wie weiland der bundesdeutsche Tourist auf der Praca do Comercio, eine Unterhaltung führen, die ein Jahr kulturelle Arbeit des Goethe-Institutes zerstört. Er setzte sich an den Nachbartisch, kehrte den dort sitzenden PortugiesInnen den Rücken zu, indem er die Rückenlehne des Stuhles zwischen die Beine nahm und redete auf mich, den er als „Deutschen“ ausgemacht hatte, in einer platzübertönenden Lautstärke ein. Was die PortugiesInnen noch lernen müßten, das erklärte er mir. Peinlich, ein derart plattes Beispiel anführen zu müssen. Ich liebe die BRD und wähle grün. Das ist gefährlich zu sagen, unmodern und die Wahrheit. Und die Wahrheit ist: Wenn alle auf der hektischen Flucht sind vor ihren Landsleuten und vor dem, was diese erzeugen, dann treffen sie überall Landsleute und ihre Erzeugnisse. Und überall werden sie bereits erwartet: von einem stolz arroganten Mercedesstern hoch über Lissabon, von bundesdeutschen Produkten in jedem Schaufenster, von Arbeitsanzeigen in der Zeitung: „Bezahlung pünktlich“. Eben bundesdeutsch.

Was hat das mit den Ankömmlingen aus dem Osten zu tun? Ich befürchte einiges. Die BRD bläst sich auf, brüstet sich mit ihrer Anziehungskraft. Das hat einen konservativen Rückstoßeffekt: Wo alle hinwollen, muß es lebenswert sein. Doch viele werden nur gelockt, Geld zu verdienen, Geld für eine Fahrkarte nach anderswo, Geld für die Zeit, in der man „lebt“ und nicht arbeitet: für die Ferien. Und dann fahren viele Vielzuviele, verlassen das gelobte Land, die Bundesrepublik. Gelobt von den Präpositionen-SiedlerInnen: Um-, Aus-, Über-. Die Urlaubszeit schafft Platz in den beiden deutschen Republiken, die Deutschen der Republik fliehen in die BRD, die Deutschen des Westbundes befliehen die ganze Welt. Die westlichen Urlaubsflüchtlinge trifft man auf den numerierten A's in südlicher Richtung. Sie exportieren ihre gesparten Sehnsüchte in elendslangen Autokonvois, die mich an die östlichen Republikflüchtlinge erinnern. Sie stehen in den Übergangslagern genauso Schlange und nehmen dies genauso gerne in Kauf. Für ein besseres Leben. Mit Anteilnahme an fremder Kultur hat unser Tourismus nichts zu tun. Eher mit Export unserer Lebensart.

Ich gönne ehemaligen DDR-BürgerInnen das Leben in der BRD, ebenso eine Urlaubsreise nach Portugal von Herzen. Nur nicht, bitte in so großer Zahl. Die große Zahl ist Zerstörung.

Einige osteuropäische Länder folgen den Forderungen ihrer BürgerInnen, integrieren in ihre Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung westliche Prinzipien. Mich befällt dabei die Sorge, daß dabei die Überlebtheit unseres Systems zu wirtschaften einfach übersehen wird: Vernichtung der „Natur“, Normalisierung der wachsenden Todesgefahr, die gesetzlich geschützt wird durch „Grenzwerte“. Sozial akzeptierte Grenzwerte, aber nicht von meinem Körper. Schlimmer noch: weil die Neuankömmlinge der BRD eine Vorbildfunktion zuschreiben, verstärken sie unser System der Selbstzerstörung.

Ich klage: Wo es sinnlich anschaubare Alternativen nicht gibt, wo sich die Beibehaltung der Industriegesellschaft zunehmend unkritischer als gesellschaftlicher Konsens durchsetzt, verbreitet sich das Gefühl von Ausweglosigkeit. Oder die Verzweiflung führt zu neuer Lebenslust, die sich, jetzt als Überlebenswille erblindet, in Leverkusen im neuen Eigenheim auf der Giftmülldeponie austobt.

Ich sitze in Coimbra in einem Straßencafe und trinke Quellwasser aus Flaschen. Das Leitungswasser ist radioaktiv verseucht und belastet mit Schwermetallen. Wasser, um Suppen zu kochen, muß man in Coimbra in Kunststoffflaschen kaufen. TouristInnen wissen es nicht, sie werden es in der heilen Welt Portugal trinken. Nur Wissen könnte schützen, doch zuviel Wissen macht depressiv. Vor allem über Fluchtpunkte.

In Coimbra scheint die Sonne, und schon so lange. Die Felder sind trocken. Ein bundesdeutsches Entwicklungsunternehmen hat den Verlauf des Mondegos, des hiesigen Flusses manipuliert. Der Wasserspiegel hat sich gesenkt, die Reisfelder können nicht mehr überflutet werden. Man hat ein Betonbett für einen Kanal gebaut, direkt neben dem Fluß. Mit Schleusen zur Regulierung.

Auch das ist Enwicklungshilfe. Eigentlich ein schlechter Witz. Bezeichnet er die Normalität, ist er ein Irrwitz. Niemand regt sich auf. Hinter der Normalität ein Gesetz der Zerstörung aufzuzeigen, ist eine Aufgabe für Müßige. Diejenigen, die arbeiten, schuften im Namen der Umgestaltung westlichen Zuschnitts.

Was hat das noch mit den SiedlerInnen zu tun? Ich fürchte, ohne die Republikaner zu wählen: sie lassen sich von dem Wahnwitz faszinieren. Angepaßt, dankbar, den Aufstieg vor Augen, endlich. Und wenn der BMW kaputtgefahren wird, gibt es einen neuen ('Die Zeit‘ vom 18.8.89).

Ich sehe neue Wohnungsbauprogramme für Sozialwohnungen sicherlich notwendig. Mehr Autos, also mehr Straßen (CDU). Mehr Ellenbogen, und an das Wort „Konkurrenz“ setzt sich die treffende Bezeichnung „Kampf“. Auch in den Seen beim Erholungsschwimmen. Aber die werden zu Sitzwanneneinheiten umgebaut.

Aus dem Osten sieht es so aus, als scheine in der BRD die Sonne den ganzen Tag. Aus Portugal sieht es so aus, als scheine in der BRD die Sonne die ganze Nacht.

Jedenfalls scheint die Sonne.

Lothar Bunn, Coimbra/Portugal