: Mißbrauch-betr.: Zur allgemeinen Berichterstattung über die Flüchtlinge der DDR
Zur allgemeinen Berichterstattung über die Flüchtlinge der DDR
(...) Angesichts der hämischen Schadenfreude gepaart mit stilisierter Panikmache, West-Deutschland werde untergehen in der Flut der Um-, Aus-, Über-, Ober- und UntersiedlerInnen, stellt sich die Frage, inwieweit die verantwortlichen PolitikerInnen und JournalistInnen überhaupt an einer Verbesserung der Lebensverhältnisse in der DDR interessiert sind. Die politische Intention ist klar:
Durch die Ansiedlung möglichst vieler Menschen anderer Länder, deren Zugehörigkeit zum deutschen Volke rein rassistisch durch Blutsverwandtschaft nachgewiesen wird, wächst dem politischen und wirtschaftlichen System der BRD ein systemtragendes Potential stillschweigender BürgerInnen zu. Zudem entsteht durch die bedingungslose Aufnahme deutschstämmiger Einreisewilliger ein Rechtsruck innerhalb der bundeseigenen Bevölkerung, der bedingt wird durch die berechtigte, wenngleich auch wieder geschürte Angst vor Wohnungsnot und Arbeitlosigkeit.
Die publizistische und politische Ausschlachtung der „Massenflucht“ hat darüber hinaus den angenehmen Effekt, die BRD als das bessere, allein lebensfähige System darzustelen. Damit wird gleichzeitig die linke Kritik am rechten System kaltgestellt, deren Theorien sich nun von der Praxis widerlegt sehen sollen.
Wenn man jedoch von den tagespolitischen Erfolgen BRD -deutscher Selbstgefälligkeit absieht, verschärft sich nicht nur das deutsch-deutsche Verhältnis auf politisch hoher Ebene, sondern vor allen Dingen das Bild der einen Deutschen in den Köpfen der anderen. Bang stellen sie sich die Frage, was wohl aus ihrem Vorzeige-Wohlstand werde, wenn die Wiedervereinigung allein in Westdeutschland stattfinden wird. Im Geiste sehen sie schon ihr Land als neues florierendes Siedlungsgebiet. Für den/die an ausländischen und aussiedlerischen MitbürgerInnen übersättigteN Deutschen verstärkt sich angesichts der neuen EinsiedlerInnen nur einmal mehr die Angst ums eigene Heim - ob die da nun 100prozentig deutsch sind oder nicht.
Von den Medien tatkräftig unterstützt, rückt die tatsächliche Problematik und Tragweite des Geschehens in den Hintergrund. Weniger offensichtliche Beweggründe als fehlendes Obst und Begrenzung per Stacheldraht bleiben schlichtweg unvorstellbar.
Da die hier praktizierte Konsumfreiheit den größten Teil des Glücksbefindens ausmacht, müssen weniger konsumorientierte Gesellschaftsformen, die zudem noch die individuelle Freiheit zugunsten der gesellschaftlichen Verantwortung und sozialen Gerechtigkeit einschränken, schlechter abschneiden. Dabei scheitern bei solch wertenden Vergleichen eigentlich nur die kapitalistischen Wertmaßstäbe, die das DDR-System in seiner grundsätzlich anderen Ausrichtung nicht erfassen.
Trotz der kompromitierenden Flucht der eigenen BürgerInnen sollte man die Kraft, die das gesellschaftspolitische Ideal des Kommunismus auf die Menschen ausübt, nicht unterschätzen. Und tatsächlich streben nicht alle DDR -BürgerInnen ins gelobte Land.
Man sollte nicht vergessen, daß viele DDR-Deutsche noch Möglichkeiten zur Veränderung ihres Systems sehen, es lediglich reformieren, nicht aber abschaffen wollen. Ziel westdeutscher Politik und Publizistik sollte die Unterstützung dieses Reformwillens sein, nicht aber der Mißbrauch flüchtender DDR-BürgerInnen zu Selbstdarstellungszwecken und Siegesgeflüster.
Petra Bäuerle, Hamburg 60
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