: Ratlose Revolutionäre in Karabach
■ Die Spannungen um die armenische Enklave in Aserbaidschan ist zum Brennpunkt des sowjetischen Nationalitätenkonflikts geworden / Gerüchte, Mißtrauen unter den Völkern und Verzweiflung bestimmen den Alltag
Barbara Kerneck
Svartnoz in Eriwan ist im Hochsommer der heißeste Flughafen im Kaukasus. Wie auf dem Weg zu einer überdimensionalen Höhensonne schleppen sich die Passagiere an den Schildern vorbei, die noch immer die Straße zu dem im März stillgelegten Atomkraftwerk „Oktembrian“ weisen. Die äußerst gefährdete Lage dieses AKW auf der Schnittstelle zweier tektonischer Schichten brachte Zehntausende armenischer Bürger bei zahlreichen Demonstrationen auf die Beine und auf die Palme. Auf der Fahrt zum Zentrum der 1.000 Meter hoch gelegenen armenischen Hauptstadt merkt der Neuankömmling, daß ihm offenbar nicht nur der Ozongehalt der Luft den Atem verschlägt. „Schon die Abgase des Nahverkehrs genügen, um uns zu vergiften“, meint der Fahrer mürrisch. „Niemand kontrolliert die Normwerte, und das Benzin ist heute grün, morgen gelb und übermorgen sogar schwarz.“ Die ungarischen Ikarusbusse von der öffentlichen Nahverkehrsgesellschaft sind nicht für unsere Steigungen geschaffen. Sie sondern doppelt soviele Abgase wie andere Busse ab. Experten zufolge verbieten sich für eine solche Höhenlage mit den starken natürlichen Strahlungen und für die Kesselsituation der Stadt abgashaltige Industrien von selbst. Doch die Tatsachen sehen anders aus: Eine der industriellen Stützen der Eriwaner Wirtschaft war bisher eine Fabrik für technische Gummiprodukte, die in hohem Maße giftige Abgase ausstieß.
Im Juni dieses Jahres hat nun der Oberste Sowjet Armeniens beschlossen, das Werk zu schließen. Die Arbeiter sollen umgeschult werden. Eine mutige Entscheidung angesichts der katastrophalen finanziellen Situation dieser Sowjetrepublik nach dem Erdbeben vom vorigen Winter.
Ebenso wie die Schließung des Atomkraftwerks „Oktembrian“ dokumentiert dieser Entschluß die Wandlung des Obersten Sowjet in Eriwan von einem bloßen Akklamationsorgan zu einer Instanz, die dem Willen der Bevölkerung Rechnung trägt.
Karabach-Frage
und Sowjetdemokratie
Die Etappen auf diesem Wege der armenischen Volksvertretung in den letzten beiden Jahren sind immer dramatisch gewesen. Sie sind untrennbar verbunden mit „Berg-Karabach“, der kleinen armenischen Enklave in der Sowjetrepublik Aserbaidschan, deren hartnäckige Einwohner mit ihrem Begehren nach Anschluß an Armenien ein ganzes Volk auf die Beine gebracht haben.
Die Auseinandersetzungen begannen, als im Februar 1988 auf auf einer Sitzung des örtlichen Sowjets von Karabach der Beschluß über den Austritt aus Aserbaidschan gefällt wurden. Dieses Ereignis war einzigartig in der Geschichte der UdSSR, deren Verfassung nur den Unionsrepubliken das Recht auf Entscheidung über ihren Verbleib in der UdSSR zuspricht auf dem Papier zumindest. Das zog entscheidende politische Entscheidungen nach sich, die den Spielraum der sowjetischen Verfassung auch für die anderen Republiken erweiterten. Zuerst erfolgte der Beschluß des Obersten Sowjet von Armenien über die Angliederung Karabachs an diese Sowjetrepublik im Juni 1988, dann die Tagung im November zur Karabach-Frage. Das war der erste Präzedenzfall, in dem das oberste Gremium einer Republik Entscheidungen fällte, die nicht vom Moskauer Zentrum initiert waren und sogar gegen den Einspruch Moskaus fortgesetzt wurden.
Nora Akopjan, eine vitale schwarzhaarige Fünfzigerin, Vorsitzende der „Vereinigten Frauenräte Armeniens“, war als Abgeordnete des armenischen Obersten Sowjet in jener Nacht dabei: „Nach langen Monaten des Widerstandes brauchte unser Volk dringend ein positives Gefühl, um seine schöpferische Stimmung zu erhalten“, sagt sie. „Wir mußten zeigen, daß die Deputierten zu ihm stehen, um zu verhindern, daß es plötzlich aus Mangel an Vertrauen oder aus Müdigkeit unvorhersagbare Schritte unternahm. Ich möchte nicht, daß die Kundgebungen als vom Parlament abgespaltene Bewegung betrachtet werden. Zumal diese Bewegung alles andere als destruktiv ist, sie will unser Leben vielmehr demokratischer und humanistischer machen. Ich denke daher, daß wir jene Leute, die in unserem Volk als Kritiker auftreten, in die Verantwortung einbeziehen und ihnen die Möglichkeit geben müssen, schöpferisch zu wirken. Armenien hat sich nämlich einer gefährlichen Schwelle genähert: Wir müssen unsere Armutsgebiete sanieren, wir müssen 200.000 Flüchtlinge aus Aserbaidschan unterbringen, und 530.000 Menschen in unserer Republik haben das Dach über ihrem Kopf verloren, das heißt ein Viertel unseres Wohnraumes wurde bei dem Erdbeben zerstört, und es ist jetzt wahrhaft nicht an der Zeit für kleinliche Politgeplänkel.“
Auch wenn die Wahlen zum heutigen armenischen Parlament unter Umständen vorgenommen wurden, die eine repräsentative Vertretung des Willens der Bevölkerung nur wenig wahrscheinlich machen, hat dieses Organ dem beschriebenen Recht der Kritiker auf Aktivität Rechnung getragen: die „Armenische Gesamtnationale Bewegung“, ein volksfrontartiger Zusammenschluß verschiedener informeller Vereinigungen unter Führung des Karabach-Komitees, hat hier im Juni durch den Obersten Sowjet den Status einer juristischen Person erhalten. Sie bekam ein eigenes Gebäude zugewiesen und verfügt in Zukunft über das Recht auf Öffentlichkeitsarbeit und Teilnahme an den Wahlen. Sehr stark vertreten sind in dieser Allianz grüne und Umweltschutzvereinigungen, um deren Ziele sich die Reformbewegung in Armenien zu Anfang sammelte, längst, bevor die Karabach-Frage ihre heutige Brisanz gewann.
Verbotene Daten
„Noch heute gibt es keine Karabach-Versammlung, auf der nicht auch von unserer ökologischen Situation die Rede ist“, berichtet Tigran, Student und Schriftsteller. Er traut dem Beschluß zur Schließung der Gummi-Fabrik noch nicht, habe doch schon 1976 der Oberste Sowjet Armeniens beschlossen, auf jegliche Erweiterung der chemischen Industrie zu verzichten. Mit der Folge, daß diese sich weiter ausbreitete. Mit dem Unterschied, daß jetzt statt der armenischen Arbeiter vermehrt Russen eingestellt wurden. „Erst kürzlich ist in Eriwan eine pharmazeutische Fabrik gebaut worden, die äußerst schädliche Abgase ausstößt - und zwar ausgerechnet zwischen einer Krebs- und einer Herzklinik“, sagt er: Ein Problem von bedrohlichem Ausmaß stelle seiner Ansicht nach der sinkende Wasserspiegel des herrlichen Sewan-Sees im Hochgebirge dar, der noch heute als Trinkwasserreservoir genutzt wird. Seit den fünfziger Jahren, als begonnen wurde, das Sewan-Wasser landwirtschaftlich zu nutzen, ist der Wasserspiegel um 18 Meter gesunken. „Unsere seltenen Edelmetalle, wie das Molybdän, werden wie in den Kolonien ohne Rücksicht auf Umweltverluste und ohne Gewinn für uns ausgebeutet“, sagt der junge Mann. „Obwohl die Statistik für Armenien weniger Alkoholiker und Drogensüchtige aufweist, als in anderen Teilen der Sowjetunion, haben wir hier eine alarmierende hohe Kindersterblichkeit und Anzahl von Totgeburten“, ergänzt Tigrans Freund Waghan. „Leider kann ich keine genauen Zahlen nennen, denn medizinische Statistiken werden bis heute nur für den Dienstgebrauch geführt und nicht veröffentlicht. Die Glasnost ist bei uns auf diesem Gebiet gleich Null. Vielleicht hat dies ja auch sein Gutes, denn wenn wir uns die Fakten schwarz auf weiß bewußt machen könnten, hätten die Einwohner Eriwans ihre Stadt wohl längst fluchtartig verlassen. So beträgt die Lebenserwartung bei uns offiziell 75 Jahre, aber die ökologischen Gruppen in Armenien schätzten sie höchstens auf 60 Jahre. Fast täglich kann man hier einen Trauerzug für einen jungen Menschen sehen.“
In diesem Sommer erschüttert eine Welle von Massenvergiftungen durch Garne und Textilien die Gemüter in Eriwan. In 53 Fällen haben sich seit einem Jahr über 2.000 Menschen an Fäden und Stoffen vergiftet, die ausgerechnet über den aserbaidschanischen Hafen Baku eingeführt worden sind. Armenische Chemiker wollen das Insektizid Chloropykrin festgestellt haben. Eine Komission, die diesen März aus Moskau angereist kam - mit Ärzten ohne jegliche Instrumente
-, sprach abwiegelnd von Allergien und Massenpsychose. Nun hat das Karabach-Komitee ein Gutachten unter Hinzuziehung von Toxikologen gefordert - das Ergebnis steht noch aus.
Angesichts der antizentristischen und antiaserbaidschanischen Stimmung im Lande ein fataler Vorfall. Die Armenier als Volk, das den Genozid erfahren hat, interpretiert seine katstrophale Umweltsituation als Versuch eines „Ökozids“.
Selbstgespräche
Wegen der Übervölkerung der Stadt mußten einige Nahrungsmittel wie Fleisch und Salz auf Lebensmittelkarten rationiert werden. „Das erleichtert uns das Leben“, meinen die meisten Gesprächspartner, „wir brauchen nicht mehr Schlange zu stehen und wissen genau, was wir bekommen.“ Heute hat sich das Straßenbild wieder normalisiert, die drangvolle Enge der Wohnungen ist geblieben. „Fast bei jedem von uns lebt jemand, der dort früher nicht wohnte“, meint der Architekt Lewan. Schon vor dem Erdbeben hatten die Behörden in ganz Armenien eine Million Wohnungssuchender als Dringlichkeitsfälle eingestuft. Hinzu kamen 250.000 Flüchtlinge aus Aserbaidschan und dann die fünf- bis sechshunderttausend obdachlosen Erdbebenopfer.
Erdbeben in den Seelen
Weiß glänzt am Berghang bei der Einfahrt in die Stadt Spitak eine Gruppe Container-Blockhäuschen. Das „Campo Italiano“, das „italienische Dorf“, daneben eine Poliklinik, in der 14tägig wechselnde Freiwilligengruppen von italienischen Ärzten in Zelten und Containern bis Anfang August so etwas wie einen alltäglichen Klinikbetrieb durchzuführen versuchen. Als wir den zeitweiligen Chef der Gruppe, den Kinderarzt Terzi Fausto, treffen, bereitet er sich bereits auf die Übergabe des Komplexes an armenische Ärzte vor.
„Man muß wissen, daß die Menschen hierher nicht nur aus Spitak und Leninakan kommen, sondern aus ganz Armenien und sogar aus Georgien. Das ist der reinste Horror. Sie glauben, daß man mit einer italienischen Tablette fast alles heilen könne und daß wir die reinsten Wunder bewirken könnten.“ Was ihm auffällt, ist die Unterversorgung mit Medikamenten. „Im Gegensatz zu uns im Westen, die wir die Medikamente verschwenden, werden sie hier wenig zur Anwendung gebracht. Und während mir früher immer schien, daß übermäßiger Medikamentengebrauch das größte Übel sei, erscheint mir jetzt die völlige Abwesenheit von Medikamenten als noch schlimmer.“ Und wie wird die Versorgung mit Medikamenten aussehen, wenn das Lager von Armeniern übernommen worden sein wird? - „Das ist Angelegenheit der Sowjetunion“, meint Fausto.
Die Freiwilligengruppen von der Assoziazione Nazionale Alpini haben hier versucht, einen Klinikbetrieb für den Alltag aufzubauen, für Leiden, die überall auf der Welt existieren. Mit den speziellen Folgen des Erdbebens waren vor allem die Psychiater befaßt. Giorgio Rivolta aus der Region Como faßt die eigenen Erfahrungen und die seiner Kollegen zusammen: „Das Erdbeben selbst hat natürlich starke nervliche Reaktionen ausgelöst, bei manchen Menschen eine ständige nervliche Übererregung, Phobien und Obsessionen, die um die Möglichkeit eines neuen Erdbebens kreisen, völlig deformierte Bilder der Realität, wie zum Beispiel die paranoide Vorstellung, daß ständig ein anderer Mensch hinter einem hergeht oder daß man ein Loch im Kopf hat; dann gibt es die verschiedensten Manien. Vor allem Jugendliche leiden unter dem Verlust der gewohnten sozialen Orte, der Schule, der Treffpunkte mit den Kameraden, die ganz wörtlich vom Erdboden verschwunden sind.“
Doch auch Erwachsene haben sich noch lange nicht von den Folgen des Bebens erholt, meint der Italiener. „Sehr viele armenische Ärzte legten nach dem Erdbeben ihre Arbeit nieder, weil sie ihre Ehepartner, Familien und Freunde verloren hatten und in keinerlei Tätigkeit mehr einen Sinn erblickten, so zum Beispiel die Ärztin Tamara, die durch das Erdbeben ihren Mann, ihre Kinder und ihre Eltern verlor. Daß diese Ärzte heute nach einer sehr langen Frist der Arbeitsunfähigkeit doch wieder zu arbeiten beginnen, ist die beste Bestätigung des Sinnes, den wir dieser Klinik zugedacht haben.“
Nicht nur fachlich haben die italienischen Ärzte in Spitak ihren Horizont erweitert. Die Bekanntschaft mit der armenischen Mentalität hat alle verblüfft. Bruno Tumiati aus Reggioemilia versichert zum Abschied leicht pathetisch, aber voller Aufrichtigkeit: „Es war eine große Entdeckung für die Menschen aus unserem Land, ein Volk kennenzulernen, das dem unseren derart nahe steht. Wir hätten so etwas nicht für möglich gehalten. Wenn auch die Mittel, die uns zur Verfügung standen, außerordentlich begrenzt waren, so haben wir doch den Kranken ein gewisses Vertrauen in uns und damit in ihre eigene Zukunft einflößen können. Weil man im Leben doch an etwas glauben muß, und wenn es auch die Familie oder die Heimat ist. Und eine derartige Anhänglichkeit uns gegenüber, wie sie das armenische Volk gezeigt hat, haben wir nirgends in der Welt gefunden.“
Architekten der Zukunft
„Wir arbeiten schon seit über sieben Monaten ohne freien Tag.“ Es gibt in der Welt keinen Präzedenzfall, daß innerhalb eines Jahres ein Plan für solch eine große Stadt wie das neue Leninakan erstellt wurde. „600.000 Quadratkilometer haben wir schon bebaut, und zwei Millionen müssen noch bebaut werden. Die 1.000 Mitarbeiter unseres Instituts arbeiten in Tag- und Nachtschichten. Sie werden unterstützt durch eine große Gruppe von Architekten aus Leningrad und freiwillige Helfer aus Kasachstan, dem Ural und Sibirien. Sie alle arbeiten ohne Überstundenzulagen und Prämien, von unserer Aufgabe geht ein gewaltiger moralischer Stimulus aus.“ Alexander Schachmachtschian, Direktor des Architekturinstituts Eriwanprojekt, ist gebräunt von den vielen Stunden auf Baustellen. Er blickt ein wenig wie Gandhi drein. Es fehle dem Projekt an Architekten, sagt er. Als er hört, daß in der Bundesrepublik und West-Berlin junge Architekten oft arbeitslos seien, lädt er sie alle ein: „Wer hier mitarbeiten will, wird auch eingestellt. Wir zahlen etwa 300 Rubel im Monat, stellen eine einfache Unterkunft und bieten zudem die Gelegenheit, die klassische armenische Architektur zu studieren.“ Schachmatschian koordiniert die Bautrupps aus aller Welt, aus Italien, England und West -Berlin, die in Leninakan ihre eigenen Häuserblocks errichten.
Trotz des internationalen Engagements werden die Architekten im ehemaligen Erdbebengebiet ebenso mit materiellen Engpässen konfrontiert, wie die Ärzte: „Gute Menschen aus aller Welt haben uns geholfen, und wer ein Herz hat, hat auch Mitleid mit uns“, meint Hratsch, Hauptarchitekt des Sarkisjan-Unterprojekts. „Es ist für uns nur kränkend, daß uns die Führung für ein Projekt in derartigem Maßstab nicht die allernotwendigsten Hilfsmittel zur Verfügung stellt. Die Ämter in Moskau plappern zwar viel über die Bedeutung unserer Arbeit, haben es aber bis heute nicht geschafft, uns einen Computer oder ein ordentliches Xerox-Gerät zur Verfügung zu stellen. Unsere altmodischen Vervielfältigungsmachinen sind so überlastet, daß wir es heute nicht einmal geschafft haben, den Abgesandten eines Bautrupps, der bereit ist, mit der Arbeit zu beginnen, die notwendigen Pläne in die Hand zu drücken. Alles ist schon fertig gezeichnet, aber es gibt keine Kopiermöglichkeit.“
Hratschs Werkstatt liegt in einem romantisch verwilderten Obstgarten. Stolz zeigt er die liebevoll bemalten Modellhäuschen eines Kinderdorfes. „Für die Kinder der Erdbebenopfer“, frage ich. „Die sind“, korrigiert Hratsch, „längst bei Verwandten und Freunden untergekommen. Wir haben uns aufrichtig gefreut, daß aus aller Welt Adoptionsangebote gekommen sind, aber die Verwandtschaftsbande sind bei uns noch zu stark: Ein Armenier wird nie ein armenisches Kind weggeben.“
Die Ausnahme-Zone
Die Enkel der Bergbauern haben durch ihre Ausdauer die gegenwärtige politische Bewegung in Armenien ausgelöst und die traditionellen Grundfesten der Sowjetverfassung erschüttert. „Wer nicht mit den Leuten von Berg-Karabach gesprochen hat, der kann uns nicht verstehen“, hörte ich immer wieder in Eriwan. „Dort ist unser Zentrum, diese Menschen kranken physisch an den Folgen jahrzehntelanger Diskriminierung.“ Die grünen Täler in Karabach gehören zu den wenigen fruchtbaren Landstrichen in der armenisch -aserbaidschanischen Steinwüste. Dies mag nicht der einzige Grund dafür sein, daß die Nachbarrepublik Aserbaidschan die Enklave nicht herausrücken will. Der einzige sichere Weg nach Berg-Karabach ist heute der Luftweg. Lastwagen, die Nachschub bringen, müssen im Konvoi fahren und werden regelmäßig von Aserbaidschanern überfallen.
Am 21.Januar dieses Jahres wurden in Berg-Karabach die lokalen Sowjets auf Moskauer Anordnung aufgelöst und administrativ der Ausnahmezustand eingeführt. Die örtlichen armenischen Parteiführer hatten sich an die Spitze ihrer Landsleute am Ort gestellt, jetzt regiert offiziell das „Sonderkomitee“ der Moskauer Regierung. Für Ruhe und Sicherheit sorgen Truppen des Innenministeriums. Bei ihrer Ankunft wurden sie noch mit Blumen empfangen. Jetzt werden sie als notwendiges Übel geduldet.
Berg-Karabach hat nicht nur den Impuls für die Armenische Nationale Bewegung geliefert, es ist auch das Herz der sowjetischen Streikbewegung. 1988 wurde dort sechs Monate gestreikt. Seit dem 3.Mai dieses Jahres befindet sich das Gebiet im Generalstreik. Schon am 21.Januar wurde der Ausnahmezustand erklärt. Ein litauischer Journalist, der gerade aus dem Gebiet zurückgekehrt ist, stellt die Frage: „Wer arbeitet in Berg-Karabach?“, um sie sich dann selbst zu beantworten: „Voll arbeiten das KGB und die Sonderverwaltung (eine Kommission Moskaus unter Führung des Unterhändlers Wolski, die an Stelle des örtlichen Sowjets eingesetzt wurde, d.Red.); halb: die Beamten in Schulen und Postämtern, die sich dort zumindest gelegentlich zeigen. Die Chefs in den Betrieben tun so, als ob sie arbeiten, und der Staat tut so, als ob er sie bezahlt. Die Kolchosen arbeiten und die mit Bewässerungsarbeiten Beauftragten, denn sie hatten in einigen Dörfern Schwierigkeiten, die Folgen des trockenen Winters wettzumachen. Die Hotels sind mit Flüchtlingen aus Aserbaidschan besetzt, von denen die meisten vorher städtische Berufe ausübten und sich an Ort und Stelle wenig nützlich machen können.“ In Stepanakert selbst gibt es nach seiner Auskunft in diesem Sommer nur noch drei Stunden Wasser pro Tag, und zwar von sechs bis neun Uhr abends.
Lebensmittelmarken als Regulierungsmittel sind überflüssig, weil sowieso niemand mehr Geld hat, um etwas zu kaufen.
Aus Eriwan werden hin und wieder Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln zu verbilligten Preisen geliefert. Bisweilen werden Einfachstgemüse wie Rübenkraut von Lastwagen aus verteilt. „Was mich überraschte“, sagt der sowjetische Kollege, „ist der beherrschende Eindruck von außerordentlicher Ruhe und die sichere Überzeugungung der Leute, daß ihre Kraft ausreichen wird, um immer weiter durchzuhalten.“
Wenn, kaukasische Litanei
Die Hitze, der Mangel an notwendigen Hilfsmitteln, der Eindruck, daß die Menschen in Moskau und erst recht in der übrigen Welt von den hiesigen Problemen nichts erfahren und die lokale Bevölkerung als „nationalistische Barbaren“ abstempeln, das Gefühl alleingelassen zu sein, dies alles bringt die kaukasische Gerüchteküche zum Kochen. „Wenn Gorbatschow“, so meint man, „ein Armenier gewesen wäre, dann hätte sich die Sowjetunion die lange Auseinandersetzung um Berg-Karabach ersparen können. Aber so sieht man die Moskauer Regierung im Komplott gegen die armenische und georgische nationale Bewegung. Fäden werden gezogen, zwischen der Reislamisierung in Aserbaidschan, den neuen iranisch-sowjetischen Kontakten, der Bestechungsaffäre in Usbekistan, deren Spuren auch ins Moskauer Zentralkomitee führten, und den Pogromen gegen die Meschketen in Ferghana.
„Wenn sich Chruschtschow seinerzeit damit brüstete, daß sowjetische Wissenschaftler künstlich ein Erdbeben auslösen könnten, dann ist dies wahrscheinlich in Armenien der Fall gewesen“, lautet die Volksmeinung. „Wenn das nächste Mal eine Ausgangssperre erklärt wird, werden die Soldaten in unsere Häuser einbrechen und unter dem billigen Vorwand verbotener Versammlungen alle politisch aktiven Bürger einsperren oder abknallen“, ist eine andere Mutmaßung. „Wenn es Moskau gelingt, den georgisch-abchasischen Konflikt soweit anzuheizen, daß sich wieder ein Vorwand findet, in Tbilissi mit Truppen zuzuschlagen, könnte man dafür die Soldaten aus Berg-Karabach abziehen. Dann wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Denn die aserbaidschanischen Nachbarn würden den aufsässigen Karabachern über Nacht den Garaus machen.“
Das Komitee
Heute tagt das Komitee in der „Ersten Sackgasse“. So heißt tatsächlich das Eriwaner Sträßchen, in dem Wasken Manukjan sein Haus hat. Anfang 40, Mathematikdozent und eines der elf gleichberechtigten Mitglieder des Karabach-Komitees.
Wie alle Meetings der letzten Zeit fand auch diese Versammlung am „Matenadaran“ statt, der in einen Berghang gehauenen Gedenkstätte für den historischen Gründer des armenischen Schrifttums. Wie auf einem Bühnenbild für Verdis „Aida“ gruppieren sich hier die Menschen an den Berghängen bis hinunter zu den zur Demonstrationsstunde erstorbenen Innenstadtstraßen.
Man fragt sich, ob die Bürokraten gut daran taten, den Opernplatz aufbaggern zu lassen, der im letzten Jahr noch Schauplatz der politischen Veranstaltungen war. Seit Monaten liegt seine Betondecke aufgebrochen, zwei Meter tiefe, enge Gruben würden heute hier zur tödlichen Falle für Demonstranten.
Nach dem Schritt zur Legalisierung ruft die „Gesamtnationale Bewegung“ die Eriwaner und alle Bürger des Landes auf, lieber wieder an die Arbeit zu gehen. Ein harter Winter steht bevor, der Mangel wird nicht mehr durch die sommerliche Ernte gemildert werden, die Obdachlosen werden mit ihren Gastgebern noch enger zusammenrücken müssen. Manukian hatte seit seiner früheren Verhaftung kein Gehalt mehr bekommen, und auch die Zahlungen an seine Frau, Vardui, die als Mathematikerin noch weiter arbeitete, wurden in den letzten Monaten eingestellt.
Trotz der Zuckerrationierung bekommt jeder Gast ein Stückchen Schokoladenkuchen und eine Tasse Kaffee, drei kleine Töchter lugen zur Tür herein. Und wie sieht nun die Zukunft des Karabach-Komitees aus? Was sind die Ziele? Ein selbständiges Armenien oder doch die Integration in die Sowjetunion, ein Zusammengehen mit den Volksfronten in Estland, Lettland, Litauen, Georgien, Weißrußland und der Moldau, die das Karabach-Komitee in den letzten Monaten demokratisch unterstützt haben? „Wir glauben nicht, daß es Sinn hat, einen ein für allemal seeligmachenden Zustand in der politischen Zukunft anzustreben, und wissen selbst, daß wir uns im laufe unserer politischen Entwicklung noch ändern werden“, meint der Hausherr. Die Anwesenden sind sich einig, daß der Weg zu einer besseren Zukunft für Armenien nur im Rahmen der Sowjetunion, durch das Zusammenwirken aller fortschrittlichen Kräfte erreicht werden kann. „Nur leider“, wirft einer der Anwesenden ein, „fällt es uns schwer, noch Perspektiven für diese Union zu entwerfen, einen Ausweg aus innerem Zwist und wirtschaftlichem Chaos zu erblicken. Existieren denn bei Ihnen keine Prognosen? Ihr Bundeskanzler muß seine Investitionen in der Sowjetunion doch auf irgendwelche wissenschaftlichen Daten stützen. Ach bitte, wenn Sie zu Hause solche Analysen besorgen könnten, bringen Sie sie uns doch mit. Es wäre vielleicht eine Hilfe!“ - Da sitzen sie unter dem Schein der Milchglaslampe - die Revolutionäre in 1.000 Meter Höhe - für ein paar Minuten ratlos.
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