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Wirtschaftlich verwertet-betr.: "Da kriegt man schon ungute Gefühle", taz vom 15.9.89

betr.: „Da kriegt man schon ungute Gefühle“, taz vom 15.9.89

(...) Ich bin ein 30jähriger Handwerker, dem es, trotz Rückenleidens, bis vor einem Jahr gelungen ist, im Job zu bleiben. Einerseits machte mir die Arbeit Spaß, andererseits ließ ich mich - dummerweise - immer wieder von Ärzten und Vertrauensärzten überreden weiterzumachen. Als einzige Hilfe bot man mir Spritzen und Pillen an.

Jetzt sind meine Knochen inoperabel hinüber, seit mehr als einem Jahr habe ich ständig Schmerzen. Fast genauso lange muß ich auch mit einem Betrag von unter 300 DM im Monat auskommen. Davon muß ich noch die ganzen Fahrkosten, Rezeptbeteiligungen usw. zahlen. Zum Thema Arbeitsamt soviel, daß ich dort ohne Rücksicht auf meine Behinderungen einfach nur wirtschaftlich verwertet werden soll.

Weil ich kaum mehr laufen und sitzen kann, mußte ich meinen Rentenantrag stellen, der seit inzwischen fünf Monaten „bearbeitet“ wird. Mir graut vor dem Grundsatz „Reha vor Rente“. Das bedeutet nämlich meist eine „berufsbildende Schulungsmaßnahme“, deren einziger Zweck es ist, die Statistik für ein oder zwei Jahre zu beschönigen oder siehe Arbeitsamt.

(...) Diese Unmenschlichkeit betrifft auch viele andere Menschen, nicht nur HIV-Positive, Knackis usw., sondern viele ältere Menschen, die nach dem zweiten Herzinfarkt u.ä. aus Angst vor dem Vertrauensarzt oder dem sozialen Abstieg immer noch am Arbeitsplatz sind und als Mittel benutzt werden, andere Kranke als Simulanten abzustempeln. Ein enormer gesellschaftlicher, auch von den sogenannten „sozialen“ Institutionen ausgehender Druck sorgt dafür, daß die 50jährige Arbeiterin nach dreimaliger Rückenoperation nach einem „Hamburger Modell“ erst vier, dann sechs und dann wieder acht Stunden arbeiten soll, obwohl sie nach vier Stunden schon geschafft ist. (...)

Ich hoffe sehr, daß die angesprochenen Probleme auch von Euch mehr recherchiert werden, um die unmenschliche Umgehensweise mit Menschen zu dokumentieren und um die angeblich soziale Maske unseres Staates herunterzureißen, und daß die sogenannte Linke sich endlich für die ganz konkreten Probleme der Benachteiligten einsetzt.

Horst, Kreuzberg

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