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Provinz ist im Kopf

■ Die Stadtoper bei den Landeskulturtagen NRW '89 in Unna Und ein paar Anmerkungen eines Lokalpatrioten über Kulturarbeit in der Provinz

Christof Boy

Axel Sedlack, Kulturamtsleiter von Unna, steht mit anderen Komparsen vor einer langen Reihe von Kleiderstangen, auf denen sich Kostüm an Kostüm drängt. Er zupft noch einmal die seidene Schärpe zurecht und kontrolliert im Spiegel den Sitz seines spätbiedermeierlichen Fracks. Er spielt den „Rappard, Beamter des gehobenen Dienstes“.

Einen Beamten zu leben oder ihn zu spielen, ist nicht ein und dasselbe. Die vornehme Gesellschaft soll durch einen morastigen Garten waten und pikiert dreinblicken, während von oben ein imaginärer Schnürregen fällt. Aber die Statisten trotten wie eine Trauergesellschaft auf die Szene. „Hier geht es ja zu wie im Kulturamt“, brüllt Regisseur Helmut Palitsch und unterbricht die Probe. Bürger Rappard wechselt die Farbe, ein schauspielernder Amtmann, der im Moment nicht so recht weiß, ob er sich als echter Beamter oder als schlechter Schauspieler beleidigt fühlen muß? In Unna?

Wo ist die Provinz? In Unna? Schon die Frage ist falsch, denn sie unterstellt, daß Provinzielles immer einen räumlichen Bezug hat. Wer die Provinz auf einen Ort festlegen will, merkt gar nicht, daß die Provinz oft nur ein Konstrukt aus Vorurteilen ist. Provinz ist im Kopf. So gesehen ist Unna kaum mehr als eine Mittelstadt bescheidenen Zuschnitts; ein Ort am östlichen Rand des Ruhrgebiets, umgeben von einem ländlichen Raum, der sich vor allem dadurch auszeichnet, daß er sich in nichts von anderen bäuerlichen Gegenden unterscheidet. Worin Unnas Reiz liegt, wird der oberflächliche Betrachter nie ergründen können. Der Sitz der Kreisverwaltung bringt nicht jene Weltläufigkeit, die Unna dem Sog des Provinziellen entreißt; die stattlichen Bürgerhäuser, die noch aus den Zeiten des Kurorts Bad Königsborn von der Reputation honoriger Kulturgastprominenz zeugen, sind nichts als Fassade, hinter der sich alltägliches Kleinstadtleben breitmacht.

Und doch ist Unna mehr als ein Städtchen ohne Stadttheater, mehr als ein großes Dorf inmitten von kleinen, mehr als ein Platz, den Karstadt als Standort des zentralen Warenlagers für die gesamte Bundesrepublik auserkoren hat. Selbstbewußt putzt Unna das Provinzielle zum Eigenwilligen heraus und führt es gegen die großstädtische Kultur an. Peter Möbius, der Kopf der freien Kulturszene in Unna, setzt die Kulturarbeit gern in bezug zu Berlin: „Unna ist ungefähr so groß wie das Märkische Viertel in Berlin. Wenn du vergleichst, was in Unna und im Märkischen Viertel los ist, dann gibt es in Unna ein pralles, kulturelles Leben.“ Hier gibt es intakte Nachbarschaften, eine ausgeprägte Lokalidentität.

Wo jeder jeden kennt, muß Kulturarbeit anders aussehen. Unna dachte sehr früh an die Förderung von Vereinen und Initiativen und begann Anfang der siebziger Jahre, die „Kultur unter die Leute zu bringen“ (Axel Sedlack). Da ließen sich junge Bildhauer von den Bewohnern einer Zechenkolonie über die Schultern sehen, während sie an der Skulptur eines Bergmannes modellierten, der als „Taubenkaspar“ bei allen bald nur noch „unser Kunstwerk“ hieß. Die offene Kulturarbeit vor Ort führte dann im vergangenen Jahr zu Aktionen der „Workklau-Gruppen“: eine Idee einiger Arbeitsloser und Theaterleute, sich in spielerischer Weise Arbeitsplätze zu „nehmen“ oder eben mal schnell einen neuen Fußgängerweg zu markieren, um auf Defizite hinzuweisen, die man durch sinnvolle Arbeit beseitigen könnte. Parallel dazu pickte sich Unna mehr und mehr Rosinen aus dem unerschöpflichen Veranstaltungsangebot der Republik. Wo waren berühmte Jazzmusiker nach Auftritten in Moers und Berlin zu Gast? In Unna. An welchem Ort gastierten koreanische Musiker, die zuvor nur bei „Horizonte“, dem Berliner Festival der Weltkultur zu hören waren? In Unna. So lag es nicht fern, daß Unna im Rahmen des nordrhein-westfälischen Diskurses „Kultur 90“ zum Thema „Kultur und Kleinstadt“ als Modell ausgewählt wurde. Ein gigantischer Theater-Fünfteiler

Als kultureller Trendsetter im ländlich-kleinstädtischen Milieu sieht sich die Stadt Unna gern. Geschmeichelt nahm sie deshalb an, als der NRW-Kultlusminister Hans Schwier dem Städtchen zur Belohnung die Ausrichtung der Landeskulturtage 1989 andiente. Natürlich wollte Unna erneut mit einer Perle glänzen und stampfte mit (fast ausschließlicher) Hilfe der freien Künstlergruppen einen gigantischen Theater-Fünfteiler aus dem Nährboden jahrezehntelanger Kulturarbeit. Neben hochkarätigen Vorstellungen anderer Künste, neben Arbeiten von Markus Lüpertz und einer Gedenkausstellung für Carl von Ossietzky, neben Musik und Tanz mit Albert Mangelsdorff, hat Unna eine eigene Stadtoper hervorgebracht. Geschrieben von Peter Möbius für seine Wahlheimat. Mit Musik von Rio Reiser. Inszeniert in einer bisher einmaligen Kooperation freier Unnaer Theatergruppen mit dem Dortmunder Schauspielhaus. Das gefiel dem Kulturministerium so gut, daß es aus dem Fonds, der eigentlich der Kooperationsförderung zwischen städtischen Theatern dienen sollte, 200.000 Mark spendierte.

Manchmal ist der Ehrgeiz größer als die Kraft, ihn umzusetzen. Fünf Teile hat die Stadtoper und fünf Schauplätze. Manches von der Phantasie der Unnaer Künstler geht unter, weil sie sich übernommen haben. Die ersten Akte sollten ein Zeichen für ein neues Kulturzentrum setzen. Deshalb wählte man das umstrittene Gelände einer ehemaligen Brauerei als Veranstaltungsort, aber leider wurden die Schauspieler und Musiker vom Titel der Veranstaltung eingeholt: Zerbrochene Träume.

Auf dem Hof der Lindenbrauerei, die schon seit Jahren verlassen vor sich hinverrottet, ohne daß der Umbau zum Kulturzentrum vorankommt, beginnt die Ouvertüre zur Stadtoper. Figurentheater mit überdimensionalen Puppen, die am Hofe Ludwig des XVI. in Saus und Braus der Revolution entgegenrülpsen. Im Keller der Lindenbrauerei herrscht dagegen Finsternis, spärlich erhellt nur durch kaltes Neonlicht. Im Gewölbe alter Maschinenhallen, im Sudbottich und im Faßlager begegnen dem Besucher Dichter und Denker wie in einer Abstellkammer der Geschichte: Heine und Hölderlin, Büchner und Brecht, die in kurze Szenen mit Textpassagen über Fürstenherrschaft und Rebellion vorgestellt werden. Der Gang durch den Keller endet in Konfusion. Ein schöner Einfall, aber es bleibt nicht genug Zeit, um die Atmosphäre des ungewöhnlichen Raums an sich heranzulassen. Musik, Verse und Worte zu verstehen.

Mit der Aufführung von Goethes Bürgergeneral kommt die Stadtoper dann in Schwung. Helmut Palitsch hat das Stück so angelegt, daß nicht Goethes Haß auf die Französische Revolution dominiert, sondern das kleingeistige Denken und Fühlen der Deutschen gegenüber den Umwälzungen in Paris zu Tage tritt. Gespielt wird auf einer hölzernen Jahrmarktsbühne im Freien. Der „Bürgergeneral“, in burlesker Derbheit zum Bauerntheater überspitzt. Nach der Premiere können die Schauspieler kaum den Beifall des Publikums genießen, denn die Probetermine für die beiden Hauptakte der Stadtoper sind dicht gedrängt: für die Ode Triomphale, das szenische Oratorium von Augusta Holmes, dirigiert von Elke Mascha Blankenburg, und für die Volksoper Das Wasser des Lebens, die in einem Zelt vor der Stadthalle aufgeführt werden soll. Das Prinzip

Der Bürger Rappard verläßt die Bühne und entblättert sich zum Kulturamtsleiter. Die Beteiligung prominenter Lokalgrößen, aber auch die Einbeziehung interessierter Bürger ist ein Prinzip, in Unnas Kulturarbeit Schwellenängst zu brechen. Zaungästen Platz zu bieten, sich selbst zu probieren an einer kleinen Rolle. Wo da die Kunst professionellen Schauspiels aufhört und die Laiendarstellung beginnt, läßt sich nicht mehr genau bestimmen. Und wer von wem lernt, der bühnenerfahrene, aber eingleisige Profi oder die unerfahrene, aber gelöste Gelegenheitsdarstellerin, ist nach den Proben zur Stadtoper unerheblich. 60 Mitwirkende haben erlebt, was es heißt, eine Volksoper in fünf Akten einzustudieren. Volksoper ist hier wörtlich zu nehmen: Während prominente Namen wie Rio Reiser das Publikum herbeiziehen sollen, bleibt das Libretto heimatnah. Der Schauplatz der Geschichte über die aufkeimenden Hoffnungen der Französischen Revolution ist Unna. Nirgendwo sonst könnte die Oper aufgeführt werden, da die Bezüge auf lokal Bedeutsames mehr als nur angedeutet sind. Gerade in dieser Begrenztheit sprengt Möbius die Grenzen. Plötzlich kommen Leute, die über bildungsbürgerliche Kunstansprüche oder alternative Experimente bisher nur die Nase gerümpft hatten.

Unna heißt auch Mittelmaß. Verglichen mit anderen Städten ähnlicher Größenordnung leistet die Stadt nur Durchschnittliches. Knapp vier Prozent vom Gesamtetat gibt Unna für Kultur aus, 1988 waren das fünf Millionen Mark. Der vergleichbare Ort Schwerte an der Ruhr verwandte beispielsweise 6,3 Prozent vom Verwaltungshaushalt für kulturelle Einrichtungen und liegt damit in Nordrhein -Westfalen hinter den Großstädten Bonn, Köln, Wuppertal und Düsseldorf an fünfter Stelle. Unnas Originalität ist die Suche nach der Lücke. Kulturfonds anzapfen: Während viele Städte immer noch mit dem Instrument Stadtschreiber herumprobierten, hatte Unna längst den ersten Stadtfilmer eingestellt, dann kam - auch das war bundesweit einmalig die Kölnerin Elke Mascha Blankenburg, die erste Stadtkomponistin. Und jetzt die Stadtoper mit der Zusammenbarbeit zwischen alternativen Theatergruppen und einer etablierten städtischen Bühne. Das Quartett

Die Resonanz bei den Bürgern ist nicht alles, womit sich Unnas Kulturarbeit vom Mief der Provinzialität befreien konnte. Das Konzept einer übergreifenden Soziokultur, die freie Szene und traditonelle Verbände aneinander annäherte, funktioniert nur deshalb, weil es das Quartett gibt. Drei Menschen und eine Institution sorgen in Unna dafür, daß alles so läuft, wie es läuft. Der Kulturmanager Dieter E.Frenzel bemüht sich als Angestellter des Kulturamtes, Neues nach Unna zu bringen. Ihm ist es zu verdanken, daß sich Widersprüchliches, Provokantes und Fremdes, durchsetzen konnte, denn er glaubt fest daran, daß „mit der Kulturarbeit etwas nicht stimmt, wenn sie konfliktfrei bleibt“. Der Kulturamtsleiter Axel Sedlack hat den Projekten den Rücken freigehalten, in den Reihen der regierenden SPD um Verständnis geworben, gegen Ignoranz gekämpft. Ohne Peter Möbius, der mit dem „Hoffmanns Comic Theater“ einer der ersten freien Theatermacher war, der sich in einer Kleinstadt ansiedelte, wäre ebenfalls wenig gelaufen. Über allem aber steht der Kulturausschuß, der in einer seltenen Koaltion zwischen Grün-Alternativen, Sozial- und Christdemokraten vieles gegen die Betonfraktion in den eigenen Parteien durchgesetzt hat. Das Ende?

Die Landeskulturtage könnten allerdings einen Schlußstrich sein unter ein gelungenes Kapitel Kulturarbeit, das niemand fortzusetzen vermag. Für die Zeit nach der Kommunalwahl haben die Nörgler, die bisher den Mund gehalten hatten, den Kampf angesagt. Die christdemokratische Kulturausschußvorsitzende ist zurückgetreten, weil ihr in der eigenen Fraktion ein Pakt mit den „Chaoten von der Grün -Alternativen Liste“ vorgeworfen wurde. Die Kommunalpolitiker haben zudem erkannt, daß die Alternativen mit einem schlüssigen Kulturprogramm bei den Bürgern mehr Punkte machen konnten als die eingesessenen Parteien mit ihren Sonntagsreden. Kultur hat plötzlich einen neuen Stellenwert bekommen, der politisch so hoch wie nie eingeschätzt wird. Der SPD-Fraktionsvorsitzende und sogar der Bürgermeister sind für den Vorsitz im Kulturausschuß im Gespräch, eine Entwicklung, die Axel Sedlack nur begrüßen kann: „Es gab Zeiten, da wurden Kulturausschüsse so besetzt: 'Ach, du bist neu, du kannst dich im Kulturausschuß bewähren.‘ Inzwischen wird Kultur ganz oben gehandelt. Das ist eine Wandlung, die kann ich nur erfreut feststellen.“

Den freien Gruppen ist das plötzliche Interesse der „Betonfraktionen“, die sich bisher immer gegen die soziokulturellen Projekte gesperrt hatte, nicht ganz geheuer. In einer Zeitungsanzeige haben sie „Kulturalarm“ geschlagen, weil sie befürchten, daß die Errungenschaften der vergangenen Jahre Schritt für Schritt zurückgenommen werden. Vor allem herrscht Argwohn, ob ein Projekt, das den Mühen jahrelanger Arbeit eine neue Dimension bringen soll, unter den neuen politischen Vorzeichen noch verwirklicht werden kann. Die freie Thaterarbeit, die Produktion der Stadtoper und die Straßenaktionen wie „Workklau“ sollten eine Produktionsstätte erhalten. In der Lindenbrauerei, einem stillgelegten Sudhaus in der Innenstadt, könnte ein Kultur- und Kommunikationszentrum entstehen. Ein wichtiger Schritt, um die kontinuierliche Arbeit der Vergangenheit zu konsolidieren. Falls die SPD in der Kommunalwahl ihre absolute Mehrheit behaupten wird, könnte der Traum von einem Schritt auf ein höhres Niveau schnell beendet sein. Denn unter rechten Sozialdemokraten war die Lindenbrauerei immer mit dem alternativen „Sumpf“ verbunden. Die Szene gibt sich kämpferisch. „Es ist ein starkes Bewußtsein in der Bevölkerung für diese Form von Stadtkultur vorhanden“, sagt Uli Brinkschulte von der Initiative Stadtspielwerk, die sich für die Lindenbrauerei einsetzt, „das läßt sich so leicht nicht zurückdrehen.“ Er weiß, wovon er spricht, denn im Trägerverein der Lindenbrauerei sitzen jugoslawische Kulturvereine, die Ostpreußen und ein Schachclub. Seitdem diese Traditionsverbände begriffen haben, wie die Hinhaltetaktik der Politiker funktioniert, reagieren sie noch radikaler als die Szene und setzten sich vehement für das Kulturzentrum ein. Auch das ist Unna. Eine Stadt, in der Berührungsängste verfeindeter Gruppen abgebaut werden.

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