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Revitalisierung

In den Blockparteien der DDR rumort es  ■ K O M M E N T A R E

Die jüngste polnische Geschichte hat uns erneut Anschauungsunterricht darüber erteilt, wie die aller Eigenständigkeit beraubten und der realsozialistischen Staatspartei knechtisch untertanen Satellitenparteien plötzlich zu neuem Leben erwachen. Mazowieckis Regierung verdankt ihre Existenz schließlich dem Wechsel der Allianzen, den Bauernpartei und demokratische Partei geschickt in Szene setzten.

Natürlich sind die Verhältnisse in Polen und der DDR nicht vergleichbar. Erst der Druck einer Massenbewegung, revoltierende Parteimitglieder und letztlich schiere Überlebensangst hatten im Fall Polens die Blockparteien in Bewegung gesetzt. Von all dem kann gegenwärtig in der DDR nicht die Rede sein - und doch ist der von vier Mitgliedern der DDR-CDU auf der Eisenacher Synode lancierte Brief an die eigene Partei ein untrügliches Symptom, die erste Zuckung im Revitalisierungsprozeß. Eingeklagt wird - und dies in erstaunlich konkreter Weise - die innerparteiliche Demokratie. Der Brief nimmt die wichtigsten Forderungen auf, die auch in Eisenach an die Staatsmacht gerichtet wurden: Reisefreiheit, ein demokratisches Wahlgesetz, Lockerung der Kontrolle über die Medien, Gemäßigter Fortschritt im Rahmen der Gesetze. Natürlich stellt der Brief der CDU-Christen einen Versuch dar, die Kirche „von ihrer gesellschaftlichen Stellvertreterrolle zu entlasten“, sprich: sie gut lutherisch zu entpolitisieren. Man sollte aber nicht nur diese Seite des Manövers im Auge behalten. Indem in der CDU überhaupt ausgesprochen wird, was die Leute bewegt, wird die wahnhafte Pseudologik verlassen, mit der die SED die Wirklichkeit wegerklärt.

Auch Manfred Gerlach, Vorsitzender der Liberaldemokraten und ebenso langjähriger wie klagloser Bündnispartner der SED, versucht sich als eigenständiger Denker. Warum, so sinniert er, haben die Flüchtlinge resigniert, sind sie doch Kinder der Revolution, hier erzogen und politisch gebildet! Gerlach hält seine Parteifreunde dazu an, „sensibel auf Signale zu reagieren, die anzeigen, daß sich hierzulande Bürger, junge Leute zumal, auf extreme Weise äußern“. Mit dieser Stasi -Prosa wird die LDPD allerdings unter der Jugend keine großen Integrationsleistungen vollbringen.

Gerlach hält dafür, daß ein Mehrparteiensystem im Sozialismus nur funktionieren könne, wenn alle Parteien für den Sozialismus eintreten. Für welchen Sozialismus, mit welchen Mitteln verwirklicht? In der Frühzeit der DDR gab es, wie übrigens auch in der BRD, christliche Sozialisten, es gab sogar - man denke nur an den Rechtsphilosophen Baumgarten - marxistische Liberale. Den Rausschmiß der Nazijuristen aus der Justizverwaltung der sowjetischen Besatzungszone hat der nichtmarxistische Demokrat Schiffer vollbracht. Aber diese Ansätze eines pluralen Sozialismus waren von Anfang an vergiftet durch den kaschierten und im Zweifel mit den Mitteln des Terrors durchgesetzten Führungsanspruch der SED. Ein „authentisches“ sozialistisches Mehrparteiensystem an der Macht hat es in Deutschland nie gegeben. Gerlach wird sich von seinen polnischen Parteifreunden belehren lassen müssen - ein Mehrparteiensystem ohne qualifizierende Zusätze oder die alte Misere.

Christian Semler

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