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Polen schiebt keine DDR-Bürger ab

■ Einige Gäste der Bonner Botschaft in Warschau sind in ein Priesterseminar umgezogen / Reisestrom ebbt leicht ab / Neuankömmlingen geht es im Westen gut / Bananen- und Gedankenfreiheit

Berlin (dpa/afp/taz) - Nach Informationen der Nachrichtenagentur 'afp‘ haben am Mittwoch mehr als hundert Personen die wegen Überfüllung geschlossene Bonner Botschaft in Warschau verlassen. Andere Meldungen dagegen besagen, daß nur 16 von 120 Botschaftsgästen die Unterkunft gewechselt hätten. Zuvor hatte ihnen die polnische Regierung zugesichert, daß sie nicht in die DDR abgeschoben würden. Die Ausreisewilligen wurden in einem ehemaligen Priesterseminar der Diözese Warschau untergebracht.

Der stellvertretende Sprecher des polnischen Außenministeriums, Klaczynski, erklärte in der Zeitung 'Zycie Warszawy‘, Polen biete der Bundesrepublik und der DDR in der Flüchtlingsfrage eine „Mission der guten Dienste“ an. Man müsse eine Lösung finden, die dem Völkerrecht entspreche.

Der Zustrom von DDR-Auswanderern in die Bundesrepublik scheint abzunehmen. Nur noch knapp 400 Neuankömmlinge registrierte das bayrische Grenzschutzkommando am Mittwoch morgen. Für die Nacht zum Donnerstag rechneten die Behörden mit drei Bussen aus Österreich. Auch per Holland-Express, mit dem die DDR-AussteigerInnen direkt in die Unterkünfte nach Gießen und Schöppingen reisen, wird nur noch ein Drittel der bisherigen Personenzahlen erwartet.

In Bayern ging der Abbau der Zeltlager weiter. Insgesamt gelangten zwischen dem 11.September und Mittwoch 17.509 DDR -BürgerInnen über Ungarn in die Bundesrepublik.

Die „allerwenigsten“ Ankömmlinge „haben sich inzwischen etablieren können“, meldet die Deutsche Presse Agentur unter Berufung auf den Arbeitsamtsdirektor Handschuch aus Coesfeld. Aber, so die beruhigende Agenturrecherche vor Ort, „der Heißhunger auf Süßigkeiten und Bananen ist vorerst gestillt“. Daß der „größte Genuß die Freiheit“ ist, läßt die Nachrichtenagentur Tischler Kamberg aus Thüringen präzisieren: „Ich gönne mir täglich den Luxus, zu sagen, was ich denke.“ Für diesen Genuß hat Schlossermeister Beihser in Cottbus „ein Millionenvermögen zurückgelassen“. Logo, daß der 54jährige, der sich im neuen Job als „Berufsanfänger, eben als Flüchtling“, aber doch glücklich fühlt, sich „höchstens“ wünscht, daß „in den Medien einmal zusammenhängend darüber informiert würde, was uns zusteht, und wo wir was beantragen können“.

Aus Sorge um die ÜbersiedlerInnen hat sich jetzt auch die IG Metall zum Thema geäußert. IGM-Vorstandsmitglied Hans Preiss warnte die Zugezogenen vor Arbeitgebern, die „die Gunst der Stunde“ nutzten, um „wenig attraktive und schlecht bezahlte Arbeitsplätze mit Übersiedlern zu besetzen“. Übersiedler dürften nicht zur „Reservearmee auf dem Arbeitsmarkt“ degradiert werden.

peb

Engholm: DDR darf Dialog nicht abreißen lassen

Kiel (afp) - Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm (SPD) hat zum politischen Dialog zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland aufgerufen. Vor dem Landtag in Kiel sagte Engholm am Mittwoch, er rate der DDR dringend, den „Dialog mit den politischen Gruppierungen der Bundesrepublik nicht abreißen zu lassen“. Die Absage des Besuchs einer SPD-Delegation sei kein Zeichen der Stärke der DDR, sondern ein ausgeprägtes Zeichen der gegenwärtigen Schwäche. Politiker der Bundesrepublik sollten ihrerseits „heute nicht wieder in den Fehler zurückfallen, nur noch über die DDR zu reden statt mit ihr“. Die DDR sei ebensowenig wie die Westgrenze Polens ein verhandelbares Objekt der deutschen und der europäischen Politik. „Auf der Tagesordnung unserer Politik steht nicht die Schaffung eines neuen Deutschen Reichs.

Das erste Ziel heißt nicht Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, das erste Ziel heißt „Wiederherstellung der Einheit der Deutschen“, betonte Engholm. Und diese Einheit werde mit zunehmendem Fortfall aller Grenzen in Europa auf einem sanften und friedfertigen Weg zu einem Zeitpunkt möglich und real werden, den heute niemand absehen könne.

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