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Dr. K's Nachhilfestunde im 'Neuen Deutschland‘ zum Pluralismus

■ Offene Drohungen gegen die demokratische Opposition in der DDR

Herr Dr. Kertzscher erteilt den Lesern des 'Neuen Deutschland‘ theoretischen Nachhilfeunterricht zum Begriff „Pluralismus“. Diejenigen, die zur täglichen, qualvollen Lektüre dieses Blattes, ich meine hier des 'Neuen Deutschland‘, verpflichtet sind, werden von solchen Aufsätzen weniger Belehrung als Stichworte der Ausrichtung erwarten. Wir erfahren deshalb natürlich nichts über den Pluralismus als Theorie organisierter Gruppeninteressen, nichts über seine Entwicklungsgeschichte, nichts über die Kritik, die an dem Konzept zu Recht und zu Unrecht geübt worden ist, wenn man von ein paar Stamokap-Plattheiten absieht.

Statt dessen werden wir instruiert, in der Gesellschaft der DDR herrsche der wahre Pluralismus, existieren doch hier verschiedene Eigentumsformen, Denkweisen und Parteien, und kann sich Mensch in einem Naturschutzaktiv ebenso betätigen wie als Briefmarkensammler, Hundehalter, Bücherfreund und Rosenzüchter. Aber Vorsicht: Die Vielfalt wird durch die „humanistische Leitidee“ bestimmt. Daraus folgt - es steht schließlich in der Verfassung - „die Führung durch die marxistisch-leninistische Partei“. Der Rest ist Deduktion. Wenn Rosenzüchter, Bücherfreunde und Hundehalter sich zusammentun, um über eine Gesellschaft zu diskutieren, die einen so elenden Autor hervorgebracht hat wie Herrn Dr.Kertzscher, dann ist das bereits ein Fall für die Stasi.

Dies um so mehr, als nach Dr.Kertzscher stets an die Hintermänner gedacht werden muß: „Man beachte, wie sie (die westlichen Feinde des Sozialismus) neben der TV-flimmernden Abwerbung von DDR-Bürgern in unserem Land selbst eine formierte Opposition auf die Beine stellen wollen, deren Fehlen sie so beklagen.“ Jetzt sind wir beim Kern von Dr.Kertzschers Unterweisung angelangt. Die DDR-Bürger, die sich für eine politische und gesellschaftliche Alternative zum verrotteten Partei-Staat einsetzen, sind bei Licht nichts anderes als Agenten der Imperialisten. Man muß diese ebenso gefährliche wie dreiste Drohung des 'Neuen Deutschland‘ vor Augen haben, um den Mut, aber auch die Gelassenheit der DDR-Bürger, die sich gestern in Leipzig landesweit zusammengeschlossen haben, gebührend würdigen zu können.

Christian Semler

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