In der CSSR macht sich Unbotmäßigkeit breit

Trotz der Repressionswelle läßt sich die Opposition nicht unterkriegen: Der Pen-Club wurde wiederbelebt, ein „Kreis der unabhängigen Intelligenz“ hat sich gebildet, und der Episkopat und Dubcek fordern gemeinsam die Freilassung der Gefangenen  ■  Von Christian Semler

Berlin (taz) - Am letzten Wochende haben die Sicherheitskräfte der CSSR erneut versucht, eine Zusammenkunft des Sprecherrats der „Charta 77“ zu verhindern. Sie nahmen Vaclav Havel fest, der als Charta -Sprecher Sascha Vondra vertritt, der wiederum eine zweimonatige Haftstrafe antreten mußte. Die Welle der Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Verurteilungen in der CSSR reißt nicht ab, seit im Juni das Manifest „Nur ein paar Sätze“ veröffentlicht worden ist. 14.000 Leute haben bisher das Dokument, das demokratische Grundfreiheiten und eine Politik des gesellschaftlichen Dialogs fordert, unterzeichnet. Es hat auch die Unterstützung vieler Leute gewonnen, die sich in den vergangenen 20 Jahren an den Kurs der Normalisierung angepaßt, ja oft sogar die demokratische Opposition verurteilt hatten.

Diese neue Koalition setzt die Solidaritätsbewegung fort, die sich anläßlich des Prozesses gegen Vaclav Havel gebildet hatte und die weit über den Kreis der engagierten Demokraten hinausreicht. Sie umfaßt nicht nur diejenigen, die den verschiedenen Familien des 68er-Reformlagers angehören, sondern viele jugendliche Anhänger der literarischen und musikalischen Subkultur, die sich im Laufe des letzten Jahres „politisiert“ haben. Der jüngste Erfolg bei dem Versuch, die über die Opposition verhängte Quarantäne aufzuheben, ist die Wiederbelebung des Pen-Klubs der CSSR, wo Vaclav Havel neben Autoren sitzt, die bisher vom Regime gehätschelt worden sind. Auch im Milieu der technisch -wissenschaftlichen Intelligenz stärkt sich die Reformlinie; Schwerpunkt ist hier der „Kreis der unabhängigen Intelligenz“, der jetzt in Prag gegründet wurde.

Die neue Unbotmäßigkeit der Intellektuellen wäre für die Parteiführung Jakes-Fojtik leichter zu ertragen, wenn es nicht angesichts der niedergehenden Wirtschaft zu einer scharfen, öffentlich geführten und noch anhaltenden Auseinandersetzung in der Partei gekommen wäre. Die CSSR muß ihre veraltete, einseitig schwerindustriell ausgerichtete Produktionsstruktur aufgeben. Sie muß den direktiven Planungsapparat beschneiden und sich irgend etwas einfallen lassen, um dem Konsumgütermangel und der schleichenden Inflation zu begegnen.

Soweit herrscht Übereinstimmung. Umstritten ist, ob diese Ziele verwirklicht werden können, wenn die jetzige Herrschaftsstruktur aufrechterhalten bleibt. Die von den Wissenschaftlern des Prognose-Instituts um Walter Komarek geforderte Trennung von politischer und ökonomischer Entscheidungssphäre knüpft direkt an die Reformdiskussion der 6oer Jahre an. Die Dogmatiker hingegen halten starr am Primat der Politik über die Ökonomie fest. Ihr Reformkonzept besteht aus einer Rhetorik, die sich rasch verbraucht. Sie stößt - von der Partei selbst in Auftrag gegebenen Untersuchungen beweisen es - bei der Parteibasis auf Unglauben und Überdruß.

Gibt es in der KPC Ansätze zur erneuten Bildung eines Reformflügels? Zu dieser Frage gibt es natürlich auch bei den demokratischen Intellektuellen unterschiedliche Ansichten. Jaroslaw Sabata, einst Parteisekretär von Brünn, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings jahrelang in Haft und jetzt einer der Gründer der „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“ (Hoss) ist der Meinung, daß die Flügelbildung in vollem Gange ist. Er stellt der schroffen Repression und dem militanten Gehabe der Unterdrückungsorgane die vorsichtige Sprache in den Medien gegenüber. Vor allem aber kontrastiert er das schonungslose Bild, das der Ministerpräsident Adamec kürzlich vor der Nationalversammlung vom ökonomischen Zustand des Landes entwarf, der unentwegten Erfolgspropaganda und den „global positiven Bilanzen“ der Jakes und Fojtik. Er erwähnt auch die offenen Drohungen Fojtiks gegenüber denjenigen Funktionären, „die sich jetzt auf die Sonnenseite schlagen“. Milan Simecka, böhmischer Philosoph und Essayist, der schon lange im slowakischen Bratislawa lebt, ist viel skeptischer als sein Brünner Freund: „Uns steckt noch der Knochen von '68 im Hals. Nach der Okkupation ist der Reformflügel geschlachtet worden. Die Reformisten sitzen heute in der Emigration oder bei der 'Charta 77‘. Wäre Adamec doch Pozsgay - wir würden sein Gewicht mit Gold aufwiegen. Weil der Reformflügel fehlt, ist die Gesellschaft vollständig polarisiert. Den Breschnewisten steht die demokratische Opposition gegenüber. Die vermittelnden Kräfte, die den schrittweisen Übergang zur Demokratie bewerkstelligen könnten, sind einfach nicht nachgewachsen. Welcher Mensch mit Charakter will denn heute überhaupt Parteifunktionär werden?“ Simecka wie Sabata sind davon überzeugt, daß sich seit August letzten Jahres die Gesellschaft der CSSR langsam zu politisieren beginnt. Für Simecka ist die Stimmung allerdings alles andere als euphorisch. „Die Leute“, sagt er, „wollen den Umbruch, aber ohne Risiken. Sie wollen Freiheit und Sicherheit.“ Simecka ist überrascht und bewegt von der neuen Kraft der Jungen, die sich seit den August -Demonstrationen des letzten Jahres gezeigt hat. „Eine phantastische Sache“, sagt er, „früher habe ich so gut wie alle Dissidenten in Bratislawa persönlich gekannt. Jetzt bestimmt eine Generation von 20jährigen die Szene. Sie sind die Kinder der 'Normalisierung‘, deshalb angeekelt von allen politischen Ritualen. Es ist eine Bewegung gegen die große Lüge. Materielle Forderungen spielen bis jetzt keine Rolle eher umgekehrt: kein Brot ohne Freiheit!“ Die große Solidaritätsbewegung in der Slowakei zugunsten der verhafteten Charta-Aktivisten Jan Carnogurski und Miro Kusy ist für Sabata und Simecka ein erneuter Beweis dafür, daß die Gesellschaft der CSSR in Bewegung geraten ist. Was der demokratischen Opposition wahrscheinlich nicht gelungen wäre, hat die staatliche Unterdrückung bewirkt: der solwakische Episkopat und Alexander Dubcek fordern gemeinsam die Freilassung der Gefangenen. „Stagnation“, so formuliert es der sorgfältig abwägende Sabata, „ist jetzt schon das falsche Wort.“