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Gigantomanen fressen Kleinen die Plätze weg

München: Für Großprojekte schneiden Politiker die dicksten Stücke aus dem Haushaltskuchen / Zwergen-Etat für Kindergärten schließt 5.000 Kids aus  ■  Von Kai-Uwe Ruf

„Ene mene muh, und raus bis du“, zählen die kleinen Kinder, wenn's nicht für alle langt. In München kann man sich einen anderen Reim auf Chancenverteilung machen: „Ene mene mah, bin Dringlichkeitsstufe A“, heißt's für die eineinhalbjährige Petra. Diese Klassifizierung durch die Stadt bringt für das kleine Mädchen und seine Eltern viele Vorteile mit sich: Petra hat Anspruch auf einen Platz in einer Kinderkrippe, die beiden Erwachsenen - ein unverheiratetes Studentenpaar - können ihre begonnene Ausbildung fortsetzen, die Tochter profitiert von den sozialen Kontakten und der fachlichen Betreuung der öffentlichen Einrichtung.

Nicht alle Münchner Kindl aber können derart glücklich reimen. Sonja, drei Jahre, und Dominik, fünf Jahre, bleibt nur der Spruch: „Ene mene meh, bin Dringlichkeitsstufe B“. Mit dieser Einstufung haben die Geschwister zwar beide einen Platz in einer Kindertagesstätte erhalten, aber leider nicht in derselben. Jeden Tag werden sie morgen von ihrer Mutter verteilt, nachmittags wieder eingesammelt; eine geschlagene Stunde benötigt sie für diese Aktion. Und dabei geht es dieser Familie noch gut. Ursprünglich war das Ehepaar mit den zwei Kindern in der Stufe D eingeordnet, durch den Einsatz einer Tagesstättenleiterin wurden sie heraufgestuft. Hierdurch erst wurde die Unterbringung beider Kinder möglich.

Nur jedes dritte Kind

kriegt einen Platz

In München grassiert der Kinderkrippennotstand. Rund 5.000 Plätze fehlen, im Gesamtbereich der Kindereinrichtungen beträgt das Defizit sogar 12.000 Plätze. Das Angebot an Krippenplätzen reicht lediglich für sieben Prozent der Münchner Kinder. Verteilt werden die begehrten Plätze in den Krippen und den Tagesstätten auf der Grundlage eines Verteilungsschlüssels, der unter Berücksichtigung der sozialen und familiären Situation der Kinder erstellt wird. Alleinerziehende Mütter haben Anspruch auf die Dringlichkeitsstufe A, sie werden bei der Vergabe bevorzugt berücksichtigt. Verheiratete Mütter sind bei einem hohen Einkommen der Familie praktisch chancenlos. In einigen Stadtteilen allerdings können nicht einmal alle Kinder der Dringlichkeitsstufe A aufgenommen werden. Anstelle der Bedürfnisbefriedigung regiert die Mängelverwaltung.

Wie bei sozialen Mißständen so üblich, kam auch dieser nicht über Nacht, aufmerksame Beobachter erkannten das Problem schon vor Jahren. Anträge der grünen Stadtratsfraktion zur schnellen Schaffung zusätzlicher Kindereinrichtungen in den Jahren 1984/85 waren allerdings von den anderen Fraktionen abgelehnt worden. Lediglich sechs Kinderkrippen mit etwa 180 Plätzen wurden in den letzten fünf Jahren vom Sozialreferat geschaffen. Tausende von Kindern warten jährlich vergeblich auf einen Platz in einer Kinderkrippe, im Kindergarten, im Hort oder im Tagesheim. Massives Nachfrageverhalten der Eltern und die Statistik der Ablehnungen machten das Problem bereits 1985 deutlich. Ein Jahr später war klar: Jedes dritte Kind in Münchene bekommt keinen Kindergartenplatz.

Vielfältig sind die Ursachen für die steigende Nachfrage an derlei Dienstleistungseinrichtungen. Ein Grund leigt in einem veränderten Selbstverständnis der Frauen, die nicht mehr nur Hausfrau und Mutter sein wollen; die Zunahme von Alleinerziehenden spielt eine wichtige Rolle; astronomische Mieten und immense Lebenshaltungskosten in der Isarmetropole erzwingen häufig die Berufstätigkeit beider Elternteile; der Trend zur Ein-Kind-Familie schließlich bedingt die Kindertagesstätte immer mehr als notwendige soziale Einrichtung, ohne die das Spielen und Lernen mit Gleichaltrigen nicht mehr möglich ist. Einher mit dieser Tendenz geht eine steigende Akzeptanz der Tagesstätten. Und letztlich sind auch noch die geburtenstarken Jahrgänge mit dem Zeugen dran.

In der Weltstadt mit Herz allerdings wurde diese Entwicklung in den zuständigen Referaten ignoriert. Zwar hatte der Jugendwohlfahrtsausschuß schon bis zum 1. Oktober 1987 die Ermittlung des aktuellen Krippenbedarfs gefordert, der Stadtjugendamtschef Georg Schrattenegger (CSU) hatte aber bis zum Mai dieses Jahres immer noch nichts Akzeptables vorzulegen.

Krippenforschung

steckt in Kinderschuhen

„Der Mann ist einfach unfähig“, kommentierte der Fraktionssprecher der Grünen Bernd Schreyer. „Vielleicht ist es auch Desinteresse. Strukturelle Veränderungen werden im Stadtjugendamt einfach nicht wahrgenommen.“ Schrattenegger selbst argumentiert hier eher formalistisch: „Wenn sich die Planungsdaten ändern, ändert sich auch die Planung.“ Wegen des eklatanten Mangels an akzeptablen Planungsdaten allerdings entzog ihm Bürgermeister Hahnzog (SPD) im Mai dieses Jahres die Planungskonzeption und gab sie an das Sozialreferat weiter. Nun ist München ja keine dumme Stadt, kein Millionendorf, das planungsblind in die Zukunft läuft. Um das morgen möglichst schon heute im Griff zu haben, entwirft man auch in Bayern Investitionspläne. Der neueste ist ein Mehrjahresinvestitionsplan (MIP) und er erstreckt sich bis in das Jahr 1993. In ihm ist auch der neue Bedarfsplan des Sozialreferats für die städtischen Kinderkrippen berücksichtigt. Was dem Jugendamt in jahrelanger Arbeit nicht gelang, schaffte man hier binnen weniger Monate: Bis 1994 sollen 1.370 neue Krippenplätze geschaffen werden.

Das Ergebnis stößt nur auf bedingte Zufriedenheit. Die Grünen sowie die städtische Gleichstellungsstelle sehen den Beschluß als ein Notprogramm; Stadtrat Schreyer errechnet bis 1994 einen Mindestbedarf von 5.000 neuen Plätzen. Berücksichtigt man, daß Ende 1988 bei 2.056 Plätzen lediglich 6,5 Prozent aller Kinder bis zu drei Jahren versorgt werden konnten, so erscheint die Schätzung des Ökopolitikers nicht unrealistisch. Auch der Sozialreferent Hans Stützle vermutet einen erheblich höheren Bedarf. Die „Krippenforschung“ ist für ihn noch lange nicht abgeschlossen. Spätestens 1991 will er neue, fundierte Zahlen vorlegen.

Neun Promille

für neue Kita- und Hortplätze

München ist nun aber keineswegs eine goldene Stadt, bei der Haushaltsplanung muß man auch im Isartal haushalten, und die Grünen errechneten für eine optimale Versorgung der Stadt mit Kinderkrippen und -tagesstätten immerhin die erkleckliche Summe von 350 Millionen Mark. Bei dieser Zahl wird nicht nur dem Stadtkämmerer schwindelig. Schließlich hat eine Großstadt vielfältige Verpflichtungen.

Um alle Pläne zu realisieren, muß sogar die Netto -Neuverschuldung erhöht werden, von 1,25 Milliarden auf 1,45 Milliarden Mark. In den vergangenen Jahren wurden viele Großprojekte in Angriff genommen. Die kann man jetzt nicht auf halber Strecke verhungern lassen: So schlägt allein der Straßenbau im neuen Investitionsplan mit fast 700 Millionen zu Buche, und das zu einem Zeitpunkt, an dem allenthalben darüber diskutiert wird, das Auto endgültig aus der Innenstadt zu verbannen. In München lautet das Stichwort: Ausbau des Mittleren Rings. Die Beteiligung am Bau des neuen Großflughafens kostet weitere 400 Millionen. Zudem hat sich die Stadt verpflichtet, für die Firmen MAN und MTU Autobahnzubringer zu finanzieren. Darüber hinaus wird in den U-Bahnausbau investiert, und auch das Kernkraftwerk Ohu II verbreitet in finanzieller Hinsicht nicht nur strahlende Freude.

Wer eine solche Vielzahl imagefördernder Großprojekte auf einmal in Angriff nimmt, kommt nicht umhin, in anderen Bereichen drastisch Geld einzusparen. Zumal, wenn auch noch die Finanzjongleure in Bonn den Geldhahn weiter zudrehen. Durch den massiven Kapitaleinsatz wird ein Großteil der Haushaltsmittel langfristig gebunden, wenig bleibt, um die sozialen Grundbedürfnisse der Stadt zu befriedigen. Ganze 53 Millionen Mark sind für die Schaffung von Kindergärten und Hortplätzen vorgesehen. Bei einem Gesamtvolumen von ungefähr 5,8 Milliarden Mark entspricht das ziemlich genau neun Promille. Damit lassen sich 1.850 Plätze bis 1993 schaffen für 7.000 abgewiesene Kinder. Die vorhandenen Geldmittel waren hier wohl erschöpft. Für die 1.370 geplanten Krippenplätze war im Haushalt kein Platz mehr. Gerüchten zufolge sollen sie „irgendwann nachgeschoben“ werden.

Die Verlierer in diesem Spiel sind die Kleinen. Wir die eineinhalbjährige Petra 1993 noch in München wohnen? Ihre Eltern planen, die Stadt zu verlassen: „Mit einem Kind in der Stadt, das hat wirklich keinen Sinn.“

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