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China: Das Kloster mit nur einem Sutra

■ Zur literarischen und politischen Kultur in der VR China / Die Volksrepublik brachte die Befreiung von Japanern und Guomindang, aber einen Verlust an Kultur

Unter meinen Büchern in Bonn finden sich in der Rubrik chinesische Gegenwartsliteratur beim Buchstaben „L“ die Werke von Liu Baiyu und Liu Binyan unmittelbar nebeneinander. Liu Baiyu, ein bis vor kurzem nur Eingeweihten bekannter Literat, lernte ich 1980 anläßlich der „Konferenz zur chinesischen Literatur während der Zeit des antijapanischen Krieges“ kennen. Bis heute ist mir sein Ausfall gegen den 1947 in Yan'an wegen seines Essays Wilde Lilien von den Kommunisten geköpften Wang Shiwei in Erinnerung geblieben. Wang sei ein Verräter und ein Spion der Guomindang (GMD) gewesen. Mit diesem Urteil stellte sich Liu in die Tradition der seit 1942 nach Erscheinen des Essays gegen Wang Shiwei erhobenen Vorwürfe. Obwohl heute nicht mehr als Laufbursche der GMD bezeichnet, ist Wang nie rehabilitiert worden und steht somit am unwiderrufenen Beginn einer Ausrottungspolitik (das Wort „ausrotten“ gehört zum festen Vokabular der KPCh) Andersdenkender, welche die KPCh 1942 in Yan'an in die Wege geleitet hat.

Liu Binyan, Vertreter einer Reportageliteratur, traf ich 1986 in Berlin - einem Gott gleich schien er mir in meine Kreuzberger Wohnung zu schweben - und 1988 in Bonn, als ihm bereits viel Leben abhanden gekommen war. Dazwischen lag jener unglückselige Moment, den ich Ende Dezember 1986 in Peking aus der Ferne miterleben konnte. Sein Parteiausschluß war bereits beschlossene Sache. In dem Sportpalast am Zoo sollte gleichsam eine letzte Vorstellung für ihn und mit ihm gegeben werden. Zhang Xinxin hatte dazu mehrere Dutzend berühmter Literaten und rund 10.000 Zuschauer organisiert.

Danach ging Liu Binyan in die USA, alle seine Werke sind im Zuge der Ereignisse vom 4. Juni aus den chinesischen Buchhandlungen verschwunden. Ein Publikationsverbot in China hatte er sich schon 1987 eingehandelt, aber eine Zielscheibe schmählicher Kritik seitens der chinesischen Regierung ist er erst seit kurzem. Es ist dies die zweite Verbannung, vielleicht schlimmer als die erste, die 1956 im Rahmen der Kampagne gegen vermeintliche Rechtsabweichler erfolgt war. Liu Binyan gehört nun zu den führenden Vertretern, die im Ausland (letztes Wochenende in Paris) um die Bildung einer chinesischen Opposition bemüht sind. Und Liu Baiyu versucht in Peking, den Yan'an-Geist gegen alle unliebsame Literatur und Kunst wiederzubeleben.

Dabei ist er der Handlanger eines weiteren Veteranen von Yan'an, von He Jingzhi, der als Kulturminister Wang Meng abgelöst hat. He Jingzhi, der für das Berliner Horizonte -Festival 1985 als Leiter der chinesischen Schriftstellerdelegation vorgesehen war, aber dann dem Publikum doch erspart blieb, ist lediglich bekannt als Co -Autor der Modell-Oper Das weißhaarige Mädchen aus den vierziger Jahren und ein paar eingeweihten Narren wie mir mit seinen Gedichten zum Lobpreis der Revolution. Affirmativ habe ich diese Literatur vor mehr als zehn Jahren bezeichnet, heute rechne ich sie zu der Literatur des Emphatischen und Pathetischen, welche die Aufgabe hat, das Seiende für grundsätzlich erlöst zu erklären. Gottähnlicher Erlöser ist die Partei, konkretisiert in dem jeweiligen „Führer“ (lingdao). Das Volk hat sich dieser ausgeübten „Gnade“ dankbar zu zeigen und im Einzelfall als würdig zu erweisen, oft in Form einer Unterwerfung, die rituellen Charakter annehmen kann.

Unterwerfungskünstler ist, aus den 20 Jahren Verbannung kluggeworden, der gestürzte Kulturminister Wang Meng. Im Westen vielfach verkannt als lippenbekennender Mitläufer, hat er hinter dem Vorhang der Bekenntnisse gefährdete Personen wie den Lyriker Bei Dao, den Dramatiker Gao Xingjian, die Erzählerin Zhang Jie geschützt und ein literarisches Werk geschaffen, das, modernistischer als der bekämpfte Modernismus, die chinesische Realität demaskiert (so der Roman Mutationen) oder karikiert hat (die Erzählung Einfach irre in: minima sinica 2/1989).

Fehler bei sich selbst suchen

Lu Xun (1881-1936) hat von der chinesischen Mentalität als der von Sklaven gesprochen. Das Ritual der Unterwerfung beginnt nicht erst mit Yan'an, es ist in Jahrhunderten eingeübt, in denen der Herrschende der Hirt und das Volk das Vieh war. So ist es auch heute in der VR China ganz üblich, daß jemand in Position vom Volk als Vieh spricht. In diesem Fall als liebem Vieh, in anderen spricht man von Schmeißfliegen (Mao Zedong) und von Vernichteten (ebenfalls Mao). In dieser Tradition stehend, hat die chinesische Regierung mit der Behauptung recht, am 4. Juni in Peking kein Massaker angerichtet zu haben, denn bei all den Bezeichnungen, die sie nun für Andersdenkende hat, können die Umgekommenen ja niemals Menschen gewesen sein.

Bei Dao spricht in seiner Lyrik von Chinesen metaphorisch als Schafen oder Ziegen, vom lieben Vieh also. In seinen Augen kennzeichnet den chinesischen Menschen etwas, das ihn geradezu begeistert Opfer sein läßt. Die Partei, die so viele Erfolge in den vierziger und fünfziger Jahren vorzuweisen hatte, kann in der ehrlichen und naiven Vorstellungswelt der Chinesen nichts Böses tun. Der Fehler kann nur bei mir selbst liegen. Mit dieser Einstellung, so der Schriftsteller Zhang Xian 1986 zu mir, sind 400.000 Intellektuelle 1956/57 in die Verbannung gegangen. Es ist dieses Kinderherz, das auch heute die meisten der Chinesen nicht an die Tatsache des Massakers vom 4. Juni glauben läßt, zu sehr ist ein solches Verbrechen mit den Japanern und der Guomindang verbunden, von denen man durch die KPCh befreit worden ist.

Gegenwärtig wird ganz China überzogen von einer verordneten Woge der Selbstbezichtigung. Dabei geht es darum, sich als das latent Böse und die Partei als das Gute an sich klar und herauszustellen. Bei Dao hat in dem berühmten Gedicht „Auf den Winter zu“ bereits zu Beginn der achtziger Jahre ein solches Verhalten als das „Schauspiel freudig erlittener Pein“ der Unterwerfung und dem Verrat vorgezogen, wohl deshalb, weil eine solche Schauspielerei, wie der Fall Wang Meng zeigt, eine gewisse Freiheit beläßt. 1981 hat mir der heute in den USA als Geschäftsmann arbeitende ehemalige Schriftsteller und Filmemacher Wang Yaping erklärt, schlimm sei gar nicht einmal die ständige Kritik, sondern vielmehr deren Folge: die Schere im Kopf.

Ziel der 1942 in Yan'an durchgeführten Ausrichtungsbewegung war im Bereich von Literatur und Kunst nicht etwa nur die Vernichtung einer modernen Kultur, wie sie sich seit der 4. -Mai-Bewegung von 1919 hauptsächlich in den Städten herausgebildet hatte, sondern wesentlicher scheint mir heute ein bislang übersehener Aspekt zu sein, nämlich der der Vernichtung des Weiblichen und der Errichtung einer männlichen Kultur, welche von der Kritik an Ding Lings Gedanken zum 8. März (1942) über die Verunglimpfung der vermeintlich privaten Frauenwelt der Ru Zhijuan (1956) in der Kulturrevolution konsequent zu der sich im „Führer„-Kult und in der Gestalt des allwissenden Parteisekretärs manifestierenden Apotheose des Mannes führt. Diese Tradition ist in der Kampagne zur „Ausrottung der geistigen Verschmutzung“ 1983/84 wieder erfolgreich zum Zuge gekommen. Es gelang den Veteranen der Yan'an-Zeit, die an den Sockeln des Patriarchats rüttelnde Frauenliteratur einer Zhang Jie, Zhang Kangkang, Zhang Xinxin, Shu Ting so zu beenden, daß diese Frauen sich heute nicht nur gegen eine Frauenliteratur aussprechen, sondern geradezu fanatisch die Gemeinsamkeit mit der Welt des Mannes zu betonen suchen (siehe minima sinica 1&2/ 1989).

In der Vergangenheit hat auch die westliche Sinologie ein Teil dazu beigetragen, durch eine historische Einordnung der Geschehnisse von Yan'an die damalige interne Politik der KPCh verständlich zu machen oder gar zu rechtfertigen. Die Überschriften dazu lauteten: Kampf gegen den Feudalismus, Japan und die GMD. Wichtig ist jedoch, daß hier die Strukturen gelegt wurden, die auch nach der Abkehr vom maoistischen Modell im Bereich der Wirtschaft nach wie vor zur Kontrolle des menschlichen Denkens überlebt haben und Anwendung finden.

Zerstörung der Kultur

ohne Beispiel

Was der GMD nicht gelungen war, die Zerstörung einer modernen Kultur in China, führt die KPCh zwischen 1942 und 1976 mit einer Konsequenz durch, die in der Menschheitsgeschichte vielleicht ohne Beispiel ist. Mao Zedong ging es 1942 um die Rückführung der sich nach 1919 in viele verschiedene Richtungen auflösenden traditionellen, einheitlichen Weltsicht auf ein im Kampf gegen Japan und die GMD funktionsfähiges Einheitsdenken, welches ich, da es die (Herrschafts-) Formen des alten China übernimmt, als den neuen Traditionalismus bezeichnet habe. Chinas moderne Kultur zwischen 1919 und 1942 hatte viele Sehweisen bedeutet, der „Geist von Yan'an“ beinhaltete eine Sicht.

Die seit 1942 betriebene Arbeit am Mythos von Yan'an hat bislang die andere Seite verdeckt, die sich immer nur zaghaft hat zeigen können. Der KPCh ist es aus eigener Kraft gelungen, im Laufe von bald 50 Jahren die einst nahezu rückhaltlos hinter ihr stehende chinesische Intelligenz fast zur Gänze gegen sich zu bringen. Was die mit heißem Herzen nach Yan'an strömenden Intellektuellen Chinas suchten, war nach den Worten von Wang Shiwei „Schönheit und Wärme“, was sie - besonders die Frauen - fanden, war „Gemeinheit und Kälte“. Die heute noch bestehende Aktualität der „Wilden Lilien“ liegt in der Enthüllung von Machtstrukturen, welche das Problem der VR China am Ende der achtziger Jahre auf das Jahr 1942 zurückverlagern und den Mythos von Yan'an als einen auch zerstörerisch veranlagten männlichen Geist relativieren lassen. Mit Wang Shiwei wurde nicht etwa ein bürgerlicher Denker hingerichtet, sondern ein überzeugter Marxist, dessen Fehler es war, die Wahrheit nicht nur gesehen, sondern gar benannt zu haben. Daß Wang Shiwei mit seiner Sehweise nicht allein dastand, bestätigte mir der bald 70jährige Kinderbuchautor Yan Wenjing 1988 in Peking. Das Leben in Yan'an sei monoton gewesen, aber Leiden eines Menschen, so der Titel seines damals verfaßten und nur in Hongkong publizierbaren Romans, durften nicht thematisiert werden.

Der „Geist von Yan'an“ hat zwei Gesichter. Einmal ist da der Sieg über Japan, die GMD und der Aufbau einer materiell zunächst menschenwürdigeren Gesellschaft zu nennen, auf der anderen Seite setzten aber die Entmündigung und Ausrichtung, im schlimmsten Fall Vernichtung des Menschen (Hu Feng und der Dissident Wei Jinsheng sind die markantesten Beispiele). Die traditionelle Opferideologie der chinesischen Intellektuellen hat diese Ausrichtung mit unterstützt. He Qifang, der in den dreißiger Jahren großartige Lyrik verfaßte und nach 1942 die maoistische Ästhetik propagierte, spricht in diesem Zusammenhang von der „Grablegung des alten Ich“. Überspitzt ausgedrückt, denkt seitdem ein Mensch in China nicht mehr, er wird gedacht.

Der Mensch wird gedacht

Dazu gehört das Verlernen der chinesischen Sprache, der ästhetischen Ausdrucksformen, der traditionellen Kultur. Wer sich heute wissenschaftlich über China informieren will, geht in die USA oder nach Japan. China hat weder vergleichbare Bibliotheken noch Fachleute. Vorträge von Chinesen haben nicht deswegen ein so niedriges Niveau, weil etwa Bescheidenheit am Werke wäre, sondern weil die offen bekundeten Kenntnisse über „China ist sehr groß“ nicht hinausreichen sollen und dürfen. Jegliche differenzierte Aussage hat in ein anderes Kommunikationssystem eingebettet zu werden. Es ist dies die Kommunikation unter Vertrauten. Hier vertrauen sich Menschen Dinge an, für die sie ins Gefängnis kommen können. Diese Form des inneren Gesprächs impliziert den Ausschluß von Fremden, ganz gleich, ob aus dem Ausland oder aus China. Das ist ein Grund, warum man sich als Ausländer in China wie vor einer Schranke fühlt, oder warum Chinesen im Ausland so abwartend miteinander umgehen: Alle anderen sind diejenigen, die mich irgendwann einmal ans Messer liefern werden, denn die Zeit der Abrechnung ist aufgrund der Maxime „In China ist die Zukunft schwer vorauszusagen“ jederzeit gegeben und möglich.

In dieses Mißtrauen aller gegen alle ist man als Ausländer stets miteinbezogen, vor allem staatlicherseits. Seit 1974, meiner ersten Begegnung mit dem Land, bis heute, habe ich keinen Brief aus China oder in China empfangen, der nicht geöffnet war (erkenntlich an den Einrissen in der Mitte des Umschlags oder am Leim, der den Brief so an den Umschlag klebt, daß beides nicht mehr ohne Schaden füreinander zu trennen sind). Und die Begegnungen in China waren in der Regel registriert, falls nicht, wurden sie von der Staatssicherheit überwacht. Unvergeßlich die Tränen meines Freundes am Bahnhof im September 1981. Er wußte da bereits, nach meiner Abreise aus Schanghai würden jahrelange Verhöre auf ihn warten, weil er für mich die Ausländern offiziell zugängliche Zeitschrift „Shanghai wenxue“ gesammelt hatte. Unvergeßlich die Verfolgungsfahrten per Fahrrad durch das abendliche Peking, wenn nach den „Konferenzen auf dem Rad“ dem Stasi meine chinesische Verkleidung aufgefallen war.

Verhöre, Gehaltskürzung und Versetzung in die Provinz hätten meiner späteren Frau gedroht. Unser Verbrechen: das Gespräch zu einer Zeit, als noch eine Art innerer Apartheid (bis 1985) für alle Ausländer galt. Unvergeßlich auch meine steten Verwandlungsbemühungen, die verzweifelten Versuche, wie ein Chinese zu sein, vor allem langsam und unprätentiös in der Dunkelheit. Diese meine kleine Teilhabe am Alltag in China hat mich wachwerden lassen für die Lyrik von Bei Dao, der das Leben in China als das eines Verbrechers schildert, weil alles, was sich außerhalb der Geschichte der Hörigkeit abspielt, den Argwohn der Vorgesetzten und die Überwachung durch den Staat wachruft.

Existenz als

ständiges Verbrechen

So wenig, wie die Menschen in China sich seit 1976 letztlich für sich und zu sich haben befreien können, so wenig hat dies, wiewohl oft von chinesischer Seite behauptet, die chinesische Literatur tun können. Entweder sie war als Wundenliteratur zur Rechtfertigung von Hua Guofeng (1977 -1978) oder als Reformliteratur zur Propagierung der neuen wirtschaftlichen Entwicklung unter Deng Xiaoping offiziell eingebunden oder sie war als hermetische Literatur (Bei Dao), absurde (Gao Xingjian), betrachtende (Wang Meng), als magisch-realistische oder, wie erwähnt, Frauenliteratur der Kritik, einem Publikationsverbot oder gar der Verfolgung ausgesetzt.

Schon vor dem 4. Juni 1989 haben daher Literaten und Künstler begonnen, China zu verlassen. Mitunter wurde ihnen vor der Ausreise gar nahegelegt, nicht mehr zurückzukehren. So bekam der Lyriker Gu Cheng im Mai 1987 für seine Reise nach Münster den Paß mit den Worten in die Hand: „Du brauchst gar nicht erst wiederzukommen.“ Heute lebt Gu Cheng mit Frau und Kind in Neuseeland vom Verkauf von Eiern aus der Hühnerhaltung. Andere sind beizeiten Kaufleute geworden, um sich dem gefährlichen Handwerk der Literatur zu entziehen, so unter anderen der bedeutende Erzähler Han Shaogong. Der Exodus chinesischer Schriftsteller und Künstler war also lange vorbereitet und fand lediglich mit dem 4. Juni einen unerwünschten Höhepunkt und ein vorzeitiges Ende. Wie im Falle von Taiwan wird vielleicht von bedeutender Literatur in chinesischer Sprache später nur im Zusammenhang mit den USA und Frankreich die Rede sein, den beiden neuen großen Zentren für Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nicht mehr nach China zurückkönnen oder -wollen.

1985 hatte Wang Meng spöttisch zum Schutz von chinesischen SchriftstellerInnen aufgerufen. Hier liege eine Gefährdung wie im Falle der Panda-Bären vor. Doch für die gegenwärtige Regierung gehört der gefährdete schreibende Mensch in China wohl kaum zum lieben Vieh. Dies hat einen einfachen Grund. Der Ahnherr der chinesischen Literatur ist Qu Yuan (um 300 v.Chr.), er ist auch der Ahnherr der Wahrheit, um derentwillen die Kritik der Herrschenden auch auf Kosten des eigenen Lebens ein Selbstverständnis ist.

Zhang Jie, die sich explizit auf Qu Yuan beruft und inzwischen in den USA lebt, hat - ebenso wie Liu Binyan als überzeugte Kommunistin der Wahrheit auch dort das Wort geredet, wo es sie hätte in Gefahr bringen können. Die Wahrheit hat keinen Ort in China, weder unter dem Feudalismus noch unter der Guomindang oder der KPCh. Die Frage ist nur, warum.

Die Wahrheit

hat keinen Platz in China

Ich denke, hier arbeitet ein traditionelles Denken, nach welchem sich das Individuum über Familie und Staat mit dem Kosmos zu einem Körper zu verbinden hatte. Der entsprechende Ausdruck in der Ideologie der KPCh lautet heute: tuanjieqilai (sich vereinigen). Dieses Wort hat in der Vergangenheit immer dann eine besondere Rolle gespielt, wenn es divergierende Meinungen gab. Der KPCh war die Moderne als Möglichkeit, die Welt anders und vor allem selbständig zu sehen, stets zuwider. Die Vereinigung des einzelnen mit der Partei schafft den einen sozialistischen Körper, innerhalb dessen jedem Menschen sein Platz zugewiesen ist. Damit diesen niemand verläßt und der Körper nicht krank wird, ist die Kontrolle über den einzelnen, beginnend bei den Nachbarschaftskomitees, notwendig. Doch dieser Körper ist eine Fiktion, die Fiktion eines Alleinherrschenden, der im Anblick von Vielfalt ( Chaos) in Melancholie verfallen würde.

Um ihn bei Laune und alles Fremde außen vor zu halten, war die Erfindung von Selbstuntersuchung und Selbstbezichtigung schon vor bald tausend Jahren eine Notwendigkeit. China ist derzeit ein Kloster, wo alles eine einzige Sutra liest und sich anschließend in dem Schauspiel einer rituellen Reinigung der Gnade der alleinseligmachenden Partei würdig macht. Der Hofliteratur und Hofkunst kommt als Transmissionsriemen dankbar empfangener Glücksversprechen entscheidende Bedeutung zu.

Wolfgang Kubin ist leitender Professor am Seminar für ostasiatische Sprachen in Bonn.

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