: Ceausescu wollte Polen erobern
■ Aber er fand für seine abenteuerlichen Pläne gegen eine Solidarnosc-Regierung im August keine Mehrheit im Warschauer Pakt In Polen gehen die Reformen weiter: ZOMO-Milizen werden aufgelöst, Zensur wird abgeschafft / Weiter prekäre Wirtschaftslage
Warschau (dpa/taz) - Das Ceausescu-Regime, im August 1968 noch ein Gegner des Überfalls der Warschauer-Pakt-Staaten auf die CSSR wollte 20 Jahre später einen zweiten Einmarsch, diesmal nach Polen, „damit man den Sozialismus und das polnische Volk verteidigen kann“.
Die 'Gazeta Wyborcza‘, Tageszeitung der Solidarnosc'hat gestern eine Dokumentation veröffentlicht, die die dringliche Einladung zum gemeinsamen Überfall ebenso enthält wie die Zurückweisung seitens der polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Frei nach Breschnew hatte der rumänische ZK -Sekretär Ian Stojan am 19.August dem polnischen Botschafter und schriftlich den Botschaftern aller Warschauer-Pakt -Staaten erklärt, eine Regierung Mazowiecki könne nicht nur „innere Angelegenheit Polens sein, sondern betrifft alle sozialistischen Länder“.
In tiefe Depressionen muß den rumänischen Sicherheitsdienst Securitate auch die Absicht der Regierung Mazowiecki stürzen, die berüchtigte, zirka 30.000 Mann starke Einsatztruppe ZOMO aufzulösen. Die ZOMO hatte nach der Proklamation des Kriegszustands in Polen die von den Arbeitern besetzten Fabriken gestürmt und war auch in der Folgezeit mit äußerster Brutalität gegen Demonstrationen der demokratischen Opposition vorgegangen. An Stelle der ZOMO soll „eine bewegliche Polizeitruppe“ treten, die aber direkt der Regierung unterstellt ist, zahlenmäßig kleiner und vor allem „bei Großereignissen wie Sportveranstaltungen einsetzbar“. Den Zomo-Schlägern wurde nachträglich vom Sprecher des Innenministeriums attestiert, sie seien eigentlich keine schlechten Kerle, nur die Regeln ihres Einsatzes seien zuweilen falsch gewesen.
Eine ebenso kostendämpfende wie der Meinungsvielfalt dienliche Maßnahme ist die Abschaffung der Zensur binnen eines Jahres, die die neue Pressesprecherin der polnischen Regierung bekanntgab. Im August dieses Jahres waren die Zensurfälle gegenüber dem Vergleichsmonat des Vorjahrs bereits ins Aschgraue abgefallen. Die Zensurvermerke in den unabhängigen Blättern mit dem umständlichen Zitat des Zensurgesetztes waren in den letzten Jahren ein anregendes Ingredienz der Lektüre gewesen. In der Parteipresse und in den von der Partei abhängigen Verlagen gab es solche Vermerke nie. Sie hatten die Zensur nicht nötig. Die Papierkontingentierung freilich wird fürs Erste aufrechterhalten bleiben - aus ökonomischen Gründen.
Anti-Inflationskurs
der Regierung
Während Demokratisierungsmaßnahmen in der Regel kostenneutral sind, kann das von den Sanierungsbemühungen der Regierung Mazowiecki nicht gesagt werden. Die Regierungsökonomen bemühen sich um die Reduzierung des riesigen Defizits im Staatshaushalt. Subventionen sollen gestrichen werden, die Kreditaufnahme soll durch Einführung marktgerechter Zinsen begrenzt werden. Die Rohstoffpreise sollen angehoben und dem Weltmarktniveau angeglichen, steuerliche und bürokratische Hindernisse bei der Privatisierung von Staatsbetrieben, die derzeit 93 Prozent der nichtlandwirtschaftlichen Produktion ausmachen, sollen beseitigt werden. Der Anstieg der Löhne soll begrenzt werden. Regierungsberater Woldemar Kuczynski rief die Bevölkerung Mittwoch abend zur Geduld auf. Er verglich die Lage der polnischen Regierung mit der eines Autofahrers, der während der Fahrt das Steuer eines ins Schleudern geratenen Automobils übernommen habe.
Lech Walesa zeigte sich alarmiert über den Unmut in der Bevölkerung. „Ich höre, wie mich die Leute verfluchen“, erklärte er vorgestern auf einer Pressekonferenz in Gdansk. „Ich weiß nicht“, fuhr er fort, „ob man das Land vor einem Bürgerkrieg bewahren können wird.“ Henryk Wujec, Sekretär der Fraktion des Bürgerkomitees der Solidarnosc im Sejm, gab eine wenig beruhigende Prognose der Inflation. Er glaubt, die Inflationsrate werde bis Ende dieses Jahres bei einigen Tausend Prozent liegen.
Christian Semler
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